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Träumen ist schlafend denken

Dass die Traumdeutung in der Psychotherapie Sinn macht, kann neurophysiologisch erklärt werden. Die Psychiaterin und Neurophysiologin Prof. Martha Koukkou hat die komplexen Zusammenhänge in ihrem Vortrag in der Reihe «Kolloquium für Psychotherapie und Psychosomatik» dargelegt.
Brigitte Blöchlinger

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Konzentriert: Titularprof. Martha Koukkou (links) mit ihrem wissenschaftlichen und persönlichen Partner Prof. Dietrich Lehmann (KEY Institute for Brain-Mind Research, Psychiatrische Universitätsklinik).

Beim Stichwort «Traumdeutung» denken die meisten Psychologinnen und Psychologen an Sigmund Freud – die Neurophysiologin und Psychiaterin Prof. Martha Koukkou auch an neuronale Netzwerke. Koukkou und ihr langjähriger wissenschaftlicher und persönlicher Partner Prof. Dietrich Lehmann beschäftigen sich seit vielen Jahren damit, wie sich die Entwicklung des Gehirns auf das Verhalten eines Individuums auswirkt – und verbinden insofern die Erkenntnisse der Neurowissenschaften mit jenen der Psychotherapie.

Autobiografisches Gedächtnis

«Das Gehirn ist ein selbstorganisierendes System, das sich aufgrund der individuellen Biographie formt», erklärte Prof. Martha Koukkou zu Beginn ihres Vortrags. Bereits im Mutterleib, ab dem sechsten Monat, würden im Gehirn des Embryos erste Erfahrungen abgespeichert. Auf die Welt komme das Neugeborene mit einem kleinen (aber wichtigen) Anteil an «angeborenem Wissen». Den weitaus grösseren Teil des Gehirns mache der sogenannte Assoziationskortex aus, der am Anfang weitgehend unbeschrieben sei. Mit schätzungsweise hundert Milliarden Neuronen und Synapsen startet das Neugeborene ins Leben; nach und nach baut sich daraus aufgrund der individuellen Erfahrungen, Erfolgen wie Misserfolgen, das Gehirn auf – ein hoch komplexes neuronales Netzwerk. Im ausgereiften Gehirn sind alle bisherigen Erfahrungen gespeichert, und neues Wissen wird laufend eingebaut. «Wir Menschen bringen bei der Geburt nichts mit, woraus eine Zwangsneurose resultieren müsste», folgerte Prof. Martha Koukkou. Psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen oder Neurosen seien das Resultat eines negativ verlaufenden «autobiografischen Gedächtnisses», wie sie es nannte.

Passend: Vier Lebensläufe symbolisiert das Kunstobjekt von Margaretha Dubach im Grossen Kursraum der Psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Zürich.

Träumen ist Hirnarbeit

Doch welche Rolle spielt der Schlaf und das Träumen in diesem autobiografischen Gedächtnis? Um das zu erklären, muss Martha Koukkou etwas ausholen: Der Schlaf gilt heute als jener Zustand, während dem das Gehirn das Wissen aus dem Wachzustand neu organisiert. Der Traum wiederum gehört zum Schlaf und gleicht dem Denken – «Träumen ist schlafend denken», formulierte es Koukkou. Unter anderem funktioniert der Traum wie das Denken über die Visualisierung von Erfahrungen. Doch vor allem beinhaltet der Traum Erinnerungen an frühere Lebensphasen, insbesondere an die Kindheit. Das ist einer der neurophysiologischen Hauptgründe, weshalb die Traumdeutung in der Psychotherapie Sinn macht. Denn über die Träume haben Erwachsene Zugang zu Erinnerungen, die ihnen in wachem Zustand verwehrt bleiben, die sie «vergessen» haben. Ihr neuronales Netzwerk jedoch hat die früheren Erfahrungen eingebaut.

Neben dem Traum sind auch Drogen, Medikamente und andere Bewusstsein-verändernde Mittel in der Lage, Erinnerungen an frühere Erfahrungen wachzurufen. Titularprofessorin Koukkou erzählte als anschauliches Beispiel dafür Charlie Chaplins Spielfilm «Lichter der Grossstadt» (1931), in dem ein Tramp (Chaplin) einem reichen Snob das Leben rettet, als dieser betrunken ins Wasser fällt; der betrunkene Millionär nimmt den Tramp voller Dankbarkeit zu sich auf sein Anwesen, wo er sich wie ein Bruder satt essen solle. Doch als die Küchenbrigade misstrauisch reagiert und den mittlerweile wieder nüchternen Hausherrn fragt, wer der fremde Hungrige sei, hat der Gerettete im nüchternen Zustand seine Dankbarkeit «vergessen» und mit dieser auch seine soziale Einstellung. Er weist den Tramp fort. Monate später begegnet der Tramp erneut dem Reichen, wieder ist dieser betrunken. Und als Betrunkener erinnert er sich auch prompt an seine frühere Dankbarkeit: «Wo warst du nur, Bruder?», fragt er Chaplin.

Souverän: die Neurophysiologin und Psychiaterin Prof. Martha Koukkou während ihres Vortrags.

Erinnerungsfördernde Zustände

In wachem, nüchternem Zustand erinnern wir uns schlecht an gewisse Dinge, führte Martha Koukkou weiter aus. Vor allem Unangenehmes wird «verdrängt». Auch im Schlaf ist das Gehirn nicht inaktiv, sondern prüft laufend die Reize, die eingehen, auf ihre Bedeutung hin: Ist etwas so wichtig, dass der Organismus besser geweckt werden sollte? Ein Hund bellt – weiterschlafen; der Wecker klingelt – aufwachen! Dieses Abschätzen des Gehirns, was relevant ist und was nicht, ist beispielsweise bei Depressionen gestört: Es fehlen die Tiefschlafphasen, dafür weist das EEG mehr REM-Phasen auf, die näher beim Wachsein sind. Eines der Symptome von Depression ist denn auch, dass die Betroffenen nachts nach kurzem Schlaf aufwachen und nur schlecht wieder einschlafen können, bemerkte Martha Koukkou.

Auch Sigmund Freuds psychotherapeutisches Setting, bei dem die Patienten auf einer Couch ohne Blickkontakt zum Analytiker liegen, zielt auf einen reizarmen «Dämmerzustand» hin, in dem die Analysanden einfacher zu ihren Erinnerungen finden.

Neue Einschätzungen des Wissens

Nicht nur im Schlaf, auch in der Psychotherapie werden die gemachten Erfahrungen neu strukturiert. Eine Therapie hat «sofortige Auswirkungen auf das Denken, Handeln und die Emotionen» des Klienten, hat die Psychiaterin Martha Koukkou beobachtet, indem die Klienten mit Hilfe des Psychotherapeuten neue Sichtweisen und Interpretationen der belastenden Erfahrungen machen und dadurch Neues, Positives erleben.  Durch die Wiederholung der Sitzungen werden die neuen Inputs im Langzeitgedächtnis verankert und führen zu einer nachhaltigen Hebung des Lebensgefühls – «deshalb muss sich eine Psychotherapie über eine gewisse Zeit erstrecken», so Koukkou. – Ihr Beitrag in der Reihe «Kolloquium für Psychotherapie und Psychosomatik» zeigte anschaulich, dass die Neurowissenschaften nicht in Opposition zur Psychoanalyse stehen müssen, sondern im Gegenteil deren Befunde sogar stützen können.

 

 

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