Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

 

Ohne Scham ans Thema Scham

Scham bewegt – nicht nur als erfahrbare Emotion, sondern auch als wissenschaftliches Thema. Letzten Samstag beleuchteten Fachleute aus Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse die vielen Facetten des unangenehmen, doch nützlichen Gefühls.
Martin Schmid

Kategorien

Wer kennt es nicht, das Gefühl, am liebsten vor Scham in den Boden zu versinken. Und wohl jedem ist schon die Schamesröte ins Gesicht gestiegen. Obwohl das Gefühl allgegenwärtig ist, im wissenschaftlichen Diskurs wurde es bis vor kurzem eher stiefmütterlich behandelt. Erst in den vergangenen Jahren, mit dem Aufkommen des Themenbereichs Emotionen, hat auch die Scham vermehrte Beachtung gefunden. Dieser Entwicklung hat auch das Collegium Helveticum, das von Universität Zürich und ETH Zürich gemeinsam getragene Institut, Rechnung getragen und am vergangenen Samstag ein Symposium mit dem Titel «Die Scham in Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse» durchgeführt. Der bis auf den letzten Platz gefüllte Meridian-Saal in der Semper-Sternwarte zeigt, dass das Thema inzwischen endgültig über einen festen Platz in der wissenschaftlichen Agenda verfügt.

Kein ausschliesslich psychologisches Phänomen

In der politischen und psychologischen Diskussion ist die Beschäftigung mit der Scham neben die bisher vorherrschende Thematisierung der Schuld getreten. Dabei zeigt sich, dass die Öffentlichkeit heute ein eigentümlich ambivalentes Verhältnis zur Scham hat: Zum einen wird die zunehmende Schamlosigkeit beklagt – wenn etwa exorbitante Managerlöhne angemahnt werden oder wenn man sich darüber empört, wie Sexuelles in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wird –, zum anderen wird Schamlosigkeit praktiziert und gefordert – wenn etwa Menschen sich aus Exhibitionslust outen oder sich zum Zwecke ihres beruflichen Erfolgs schamlos anpreisen müssen.

Das Phänomen der Scham ist vielschichtig und seine sprachliche Artikulation schwierig. Inhaltlich geht es um die Bedeutung der Scham für die Selbsterkenntnis des Subjekts und für den sozialen Zusammenhalt, um den Zusammenhang von Scham und Schuld und um die komplexe gegenseitige Beeinflussung von Individualisierungs- und Sozialisierungsprozessen. Scham ist dabei kein bloss psychologisches Phänomen. Sie steht an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft. Während die Schuld das schon vergesellschaftete Subjekt (be-)trifft, erlaubt die Untersuchung der Scham, den Prozess der Vergesellschaftung des Individuums und den Prozess der Konstituierung des Subjekts gemeinsam in den Blick zu nehmen. Im Schamgefühl begegnet nämlich einerseits das Subjekt sich selbst, wenn es sich als in der Welt fremd und ausgesetzt erlebt, gleichzeitig dient das Schamgefühl auch dazu, unmittelbare Befriedigung triebhafter Wünsche zugunsten einer moralischen Orientierung zurückzustellen und sich so in die Gesellschaft einzuordnen.

Scham als typisch menschliche Errungenschaft

Den vielfältigen Ausprägungen von Scham und dem damit verbundenen mannigfaltigen Zugriff zum Thema trug auch die Tagung Rechnung, die vom Collegium Helveticum gemeinsam mit der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse (GAD) organisiert worden war. Sechs Referenten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen reflektierten das Thema. Während Alice Holzhey, Daseinsanalytische Psychotherapeutin, anhand von Paul Sartre und Martin Heidegger die Komplexität der Scham als Sozial-, Wert- und Selbstgefühl ansprach, referierte Daniel Hell, Professor für Klinische Psychiatrie und Klinischer Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, über die «Beschämte Scham» und arbeitete neben den Funktionen der typisch menschlichen Errungenschaft Scham insbesondere den Unterschied zwischen dem individuellen Schamgefühl und der kollektiven Beschämung heraus. Am Beispiel des Trinkers zeigte er die Facette «Scham über Scham» und belegte so die unterschiedliche und komplexe Ausgestaltung von Scham.

Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive beleuchtete der Publizist Michael Pfister das Thema, wobei der Gegensatz zwischen Scham- und Schuldkultur im Zentrum stand. «Der Prozess» von Franz Kafka sowie die Arbeiten des italienischen Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Primo Levi dienten Goran Grubacevic als Basis, um «Die Scham, ein Mensch zu sein» zu thematisieren. Abgerundet wurde das Symposium durch die psychoanalytische Perspektive von Stephan Marks und Christian Kläui. –Für nächsten Sommer ist ein «Collegium Heft» zum Thema der Tagung geplant.

 

 

 

Weiterführende Informationen