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Psychoanalyse in der Wissenschaft

Wie die Psychoanalyse in verschiedenen Wissenschaftsbereichen fruchtbar gemacht werden kann, darum kümmert sich das neu gegründete Interdisziplinäre Psychoanalytische Forum der Universität und der ETH Zürich. unipublic sprach mit zwei der sechs Gründungsmitglieder.
Interview: Brigitte Blöchlinger

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In Anlehnung an Sigmund Freuds Appell, im Geist der Wissenschaft zu denken und zu handeln, nannten die Professorinnen und Professoren das Gründungssymposium des IFP «Die leise Stimme des Intellekts».

Die Idee eines Interdisziplinären Psychoanalytischen Forums (IPF) heckten die Zürcher Professorinnen und Professoren Brigitte Boothe (Psychologie), Elisabeth Bronfen (Anglistik), Reinhard Fatke (Pädagogik), Georg Kohler (Philosophie), Philipp Stoellger (Theologie) und Michael Hampe (Philosophie an der ETH) aus.

In Anlehnung an Sigmund Freud nannten die fünf ihr Gründungssymposium vom 10. Oktober «Die leise Stimme des Intellekts». Das Interesse an einem solchen Ort des Austausches über die Psychoanalyse in verschiedenen Disziplinen zeigte sich schon bei der ersten Veranstaltung des IPF: rund achtzig Interessierte nahmen daran teil. Auch in Zukunft will das IPF neben der wissenschaftlichen Vernetzung auch öffentliche Veranstaltungen organisieren.

Die Gründungsmitglieder des neuen Interdisziplinären Psychoanalytischen Forums (IPF): Prof. Brigitte Boothe (Psychologie)… 

Brigitte Boothe und Reinhard Fatke, Sie haben das Interdisziplinäre Psychoanalytische Forum zusammen mit vier anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegründet. Weshalb braucht es ein solches Forum an der Universität und an der ETH Zürich?

Brigitte Bloothe: Psychoanalytische Konzepte, Ideen und Befunde sind in verschiedenen Wissensgebieten fruchtbar geworden und haben sich dort jeweils weiter entwickelt. Es lohnt sich, sich darüber auszutauschen und voneinander zu lernen. Auch interessieren sich Studierende und der wissenschaftliche Nachwuchs häufig für psychoanalytische Theorie, Praxis und Forschung und sind dankbar für eine Kontaktstelle und eine entsprechende Förderung.

... Prof. Reinhard Fatke (Pädagogik)...

Reinhard Fatke: Ein Forum dieser Art bietet Struktur und zugleich genügend Offenheit, um alle diejenigen zusammenzubringen, die an interdisziplinärer Kooperation interessiert sind und dabei das Potenzial der Psychoanalyse für die Erkenntnisgewinnung in anderen Disziplinen fruchtbar machen möchten.

Die Psychoanalyse, die im akademischen Bereich eher ein Dasein im Verborgenen führt, darf auf keinen Fall auf eine Therapiemethode für psychische Erkrankungen reduziert werde. Sie hat in vielen Themenfeldern vor allem der Geistes- und der Sozialwissenschaften bereits zahlreiche Erkenntnisse hervorgebracht, die es wach zu halten und weiter zu entwickeln gilt. Das Zusammenführen von Einzelarbeiten und -projekten im IFP verspricht eine anregende intellektuelle und wissenschaftliche Belebung.

... Prof. Elisabeth Bronfen (Anglistik)...

Seit einigen Jahren finden die naturwissenschaftlichen und dort insbesondere die genetischen Denkansätze vermehrt Beachtung und Anerkennung in der universitären Forschung. Wie kam es, dass das «psychoanalytische» Fragen und Aufdecken nicht nur in den Hintergrund getreten ist, sondern auch immer wieder als «ineffizient» kritisiert wurde?

Brigitte Boothe: Wer naturwissenschaftliche Expertise in den humanen Bereich trägt, weiss ja aufgrund der eigenen wissenschaftlichen Schulung, des akademisch offenen Horizonts, der Lebenserfahrung und des ernsthaften Austauschs mit Praktikern (zum Beispiel aus dem Therapiebereich), dass das Kriterium «Effizienz» gegenstandsabhängig ist.

Ausserdem: «Der Fortschritt ist immer nur halb so gross, wie er ausschaut», lässt Nestroy eine seiner Figuren sagen. Bei Problemen, die nur bedingt eine Reduktion der Komplexität vertragen, bedarf es der Geduld der Denkenden, der Handelnden, der Leidenden und Forschenden – und nicht der vollmundigen Sofort-Schein-Lösung.

Das gilt auch für andere Disziplinen: Wo ist zum Beispiel die effiziente Krebs- oder Aids-Therapie? Wer ernsthaft als Wissenschaftler an der Sache arbeitet, von der er etwas versteht, kann nicht immer gleich hinaus posaunen, dass er am Ziel sei. – Oder spielen wir alle Hase und Igel?

... Prof. Georg Kohler (Philosophie)...

An das Gründungssymposium kamen rund achtzig Personen – um einiges mehr, als Sie erwartet hatten. Ist die Psychoanalyse in der Gesellschaft «beliebter» als in den Wissenschaften?

Brigitte Boothe: Ich kann nur von den Leuten sprechen, die gekommen sind, und mich auf Äusserungen beziehen, die ich gehört habe. Teilnehmende interessierten sich für etwas, was die Psychoanalyse in Kontakt mit den Natur- und Geisteswissenschaften vermutlich wird weiter entwickeln können: für ein erweitertes und differenziertes Konzept dessen, was heutzutage «Vernunft» heissen kann, für eine innovative Erforschung dessen, was Denken, Phantasie, Einbildungskraft und Kreativität ist und wie das genutzt werden kann im Rahmen eines produktiven Bildungsbegriffs.

Sie interessierten sich für Psychoanalyse und die im Medienzeitalter besonders wichtige Problematik der Selbsttäuschung und – mit Kant gesprochen – der «feinen Betrügerei des Alltagslebens». Sie wollen mehr wissen über das Verhältnis von Psychoanalyse, politischer Theorie und Philosophie, auch über die Frage nach Gewalt und Friedenssicherung, Destruktion und Bindungsfähigkeit.

Es beschäftigt sie die neue Sehnsucht nach dem Religiösen. Und sie finden Fragen wichtig wie die nach einem anspruchsvollen, aber flexiblen Wissenschaftsverständnis, das sich selbst nicht normativ verengt, aber streng ist in Bezug auf seine Rechtfertigungs- und Methodenbasis.

... Prof. Michael Hampe (Philosophie an der ETH Zürich)… 

Das neu gegründete Forum ist interdisziplinär angelegt. Wodurch zeichnet sich ein psychoanalytischer Ansatz in anderen Disziplinen als der Psychologie aus – beispielsweise in der Pädagogik?

Reinhard Fatke: Gerade die Pädagogik wurde schon von Sigmund Freud als der wichtigste Anwendungsbereich der Psychoanalyse bezeichnet und hat im 20. Jahrhundert eine Vielzahl von Modelleinrichtungen, insbesondere für auffällige Kinder und Jugendliche, sowie von theoretischen Konzepten hervorgebracht.

Gegenüber dem gegenwärtigen Mainstream in der Pädagogik, der hauptsächlich auf Lernen und Leistungssteigerung setzt und davon ausgeht, dass Ergebnisse von Lernen und Erziehung so hergestellt werden können, wie sie rational geplant werden, lehrt uns die Psychoanalyse, auch die «dunklen» Seiten des Subjekts, seine Konflikte, Ängste und seelischen Widerstände zu erkennen, die häufig dem Lernen und der gesunden Entwicklung entgegenstehen und nicht mit naiver Didaktik zu überwinden sind.

Darüber hinaus lehrt die Psychoanalyse, dass auch die nicht-bewältigten seelischen Themen und Konflikte der Erzieherinnen und Erzieher eine gewichtige Rolle in den Bildungsprozessen spielen und deren angestrebten Ergebnisse beeinträchtigen.

… und Dr. Philipp Stoellger (Theologie).

Wer kann vom neu gegründeten Interdisziplinären Psychoanalytischen Forum der Universität und der ETH Zürich profitieren?

Brigitte Boothe: Die Öffentlichkeit, der akademische Nachwuchs und die Forschung. Die Verbindung mit praktizierenden Psychoanalytikern, Therapeuten, Psychiatern und Seelsorgern ist natürlich auch sehr wichtig.

Es wird Diskussionsrunden, Projektvorstellungen, Workshops, gemeinsame Publikationen und weitere öffentliche Veranstaltungen geben; wir denken auch an Mentoring und Informationsaustausch mit anderen Universitäten.

Wir stehen am Anfang, geniessen den eigenen Spass an der Sache, dass wir unser eigenes Engagement in ein lebendiges Gespräch mit einer Tagungsöffentlichkeit bringen konnten, und wir legen noch lange nicht alles fest. Da die Vitalität des IPF gegenwärtig ganz auf unseren eigenen Schultern ruht, müssen Ideenreichtum und Machbarkeit in ein Gleichgewicht kommen.

Reinhard Fatke: Da die Psychoanalyse für nicht-psychologische Disziplinen vor allem ein spezifisches Verfahren der Erkenntnisgewinnung bietet, können Interessierte aus diesen Disziplinen ihr wissenschaftliches Methodenrepertoire erweitern und dadurch zu neuen inhaltlichen Einsichten gelangen.

Ob daraus auch gemeinsame interdisziplinäre Forschungsprojekte entstehen, hängt vom Engagement der Beteiligten ab, auch und gerade der Mittelbauangehörigen, die herzlich eingeladen sind, sich am IFP zu beteiligen.