Gvantsa Salukvadze steht vor einem Salatfeld in Khurtisi, einem Bergdorf im georgischen Kaukasus. Sie zückt ihr Smartphone, schiesst ein Foto und kreiert damit einen Spot in der MountainApp (MTA) – ein auf der Karte verorteter Pin mit zusätzlichen Informationen. Die Lehrbeauftragte der Tbilisi State University (TSU) beschreibt darin, wie – neben dem Tourismus – der Salatanbau dazu beiträgt, dass diese Familie in der Bergregion überleben kann. An der Universität Zürich öffnet die Geographiestudentin Ella Schubiger interessiert den Spot und verfasst einen Kommentar dazu. Ihrerseits lädt sie das Foto einer Entwicklung hoch, die sie im bündnerischen Val Lumnezia beobachtet hat: Im Rahmen der inneren Verdichtung wurden hier Ställe zu Wohnbauten umfunktioniert, ohne die historischen Stallfassaden massgeblich zu verändern.
Die App «MTA» ist Teil des Forschungsseminars «Sustainable Mountain Development», einer Zusammenarbeit der UZH mit der TSU in Georgien. Die Veranstaltung behandelt Fragen und Themen, die sowohl in den Alpen als auch im Kaukasus aktuell sind: Abwanderung, Klimawandel, Landschaftsschutz und Regionalentwicklung. «Es ist spannend, dass trotz unterschiedlicher Kultur und geopolitischer Lage in beiden Ländern ähnliche Diskussionen stattfinden», erzählt Annina Michel, die als Forscherin im Bereich Naturschutz und Landschaftsentwicklung die Modulverantwortung innehatte. «Diesen Austausch möchten wir pflegen und voneinander lernen.» Der Dialog zwischen Zürich und der georgischen Hauptstadt fand dabei auf drei Ebenen statt: In der Vorlesung, über den eigenen Blog und die App «MTA».
Im Wechsel berichteten UZH-Professor Norman Backhaus, Annina Michel und die georgischen Partner:innen – Joseph Salukvadze, Temur Gugushvili und Gvantsa Salukvadze – in den Vorlesungen über ihre Fachgebiete. «Um den Bezug zu beiden Bergregionen zu wahren, folgte auf eine Vorlesung der UZH immer eine Einordnung von georgischer Seite und umgekehrt», erklärt Michel. Die Vorlesungssäle in Zürich und Tbilisi waren dazu per Videoübertragung miteinander verbunden. «Dieses hybride Format war ein Pilotprojekt an sich: Die Internetverbindung hat nicht immer mitgespielt», lacht Michel. Die Vielfalt der behandelten Themen spiegelt sich in den studentischen Blogeinträgen auf der Kurswebsite «Mountainapp.net» wider. Auf freiwilliger Basis durften die UZH-Studierenden die Blogposts in Zusammenarbeit mit georgischen Kommiliton:innen schreiben und konnten so den internationalen Austausch auch auf einer persönlichen Ebene pflegen.
Ein Hilfsmittel zum Dialog zwischen den beiden Unis bildet die App, die Michel mit Hilfe eines Lehrkredits der UZH (heute Universitäre Lehrförderung ULF) entwickelt hat. Über deren interaktive Karte können Studierende und Dozierende ihre persönlichen Beobachtungen aus den Bergregionen und ihrer Lebensumwelt teilen. Im Laufe des Semesters erhielten die Studierenden beider Länder mehrere Observierungsaufgaben, die sie in Spots festhalten mussten. «Es war interessant zu sehen, wie die Studierenden in Georgien wohnen oder wo sie in die Ferien gehen», erzählt UZH-Studentin Schubiger. Ihr Lieblingsbild zeigt ein verlassenes Hochhaus am Schwarzen Meer, das langsam von der Natur zurückerobert wird. «Über die App erhielt man einen sehr persönlichen Eindruck von Georgien – ganz anders, als wenn man sich Bilder im Internet anschaut», berichtet der Geographiestudent Alessandro Joshua Pierro. Ähnlich wie auf Social Media können die Nutzer:innen die Spots von anderen liken, kommentieren oder Fragen stellen. «Wir haben die App spezifisch für diesen Kurs entwickelt», erzählt Michel. «Doch sie ist frei zugänglich und liesse sich in Zukunft auch für ein Citizen Science-Projekt nutzen.»
Das Foto des Stalles, welches Schubiger im Val Lumnezia geschossen hat, stammt von ihrer Felderkundung für die Projektarbeit, mit der die Studierenden den Kurs abschliessen. Gemeinsam mit Pierro und zwei Kommilitonen hat sie untersucht, wie sich die Revision des Raumplanungsgesetzes auf das Alpendorf Vella auswirkt. «Es war das erste Mal im Bachelorstudium, dass wir unsere Forschungsfrage frei definieren durften – das war mega cool», erzählt Schubiger. Die Gruppe hat zwei Skilehrer in Vella interviewt und dabei erfahren, wie das Dorf mit weniger Bauland, Zweitwohnungen und der inneren Verdichtung umgeht – persönliche Anekdoten und Dorfgeflüster inbegriffen. Zum Abschluss des Kurses haben die Studierenden ihre Resultate vor den Teilnehmenden beider Nationen präsentiert. Die Projekte werden ab März 2023 auch auf der MountainApp-Website einzusehen sein.
«Das Forschungsseminar «Sustainable Mountain Development» ist ein Modul, das mit seiner Internationalität dem Geographiestudium gerecht wird», kommt Schubiger zum Schluss. Mit dem aufwändig gestalteten Lehrformat haben es die Dozierenden geschafft, den fachlichen und persönlichen Horizont der Studierenden zu erweitern. «Das Mitdenken von Raumplanung, Sprache, Geopolitik und Ökologie hat mich begeistert», erzählt Pierro. Im direkten Gespräch mit den Studierenden hat Michel Feedback eingeholt, um das Forschungsseminar im nächsten Jahr noch zu verbessern. So soll beispielsweise der direkte Austausch zwischen den TSU- und UZH-Studierenden in Zukunft mehr Gewicht erhalten.
Die Zusammenarbeit mit einem an der UZH untervertretenen Land war nicht nur für die Studierenden wertvoll und inspirierend, sondern auch ein Gewinn für Michel selbst. «Die Aussenperspektive gab mir einen frischen Blick auf mein Forschungsgebiet der Schweizer Alpen», sagt sie. Im Rahmen der Entwicklung von Kurs und App hat sie neue Bekanntschaften am eigenen Institut und in Georgien geschlossen, wo sie nun auch als externe Beraterin für ein Forschungsprojekt tätig ist. Unter den Studierenden möchte man das neu gewonnene Netzwerk ebenfalls nutzen: Eine Reise nach Georgien ist angedacht – vielleicht um einen der interessanten Spots zu besuchen?