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Gesundheit

Schwere Erkrankungen – grosser Zeitdruck

Die Diagnose Muskeldystrophie trifft Kinder und ihre Eltern unvorbereitet. Der fortlaufende Muskelschwund wird oft erst nach dem dritten oder vierten Lebensjahr erkannt und bedeutet lebenslange Sorge und Betreuung. Wie digitale Plattformen dabei helfen könnten, erklärte UZH-Gesundheitsgeograph Oliver Grübner am Nursing Science Symposium.
Marita Fuchs
Die Krankheit Muskeldystrophie Duchenne verursacht eine fortschreitende Verschlechterung der Muskeln und der Mobilität. Betroffene benötigen im Teenageralter einen Rollstuhl und sind auf Hilfe angewiesen. (Bild: iStock / ISvyatkovsky)

Sie raubt die Muskelkraft. Die Krankheit Muskeldystrophie Duchenne (DMD) verursacht eine fortschreitende Verschlechterung der Muskeln und der Mobilität. DMD ist das zweithäufigste angeborene Leiden bei Knaben, einer von 3500 kommt damit zur Welt. Sie ist die häufigste muskuläre Erbkrankheit. Verursacht wird die Krankheit durch einen Gendefekt des X-Chromosoms, das die Bildung des Muskeleiweisses Dystrophin regelt. Bei Mädchen wird der Defekt durch ihr zweites, intaktes X-Chromosom kompensiert. Oft bemerken die Eltern erst drei bis vier Jahre nach der Geburt, dass ihr Kind krank ist. Zu dieser Zeit sind schon viele Muskelfasern zerstört.

Die Diagnose Muskeldystrophie ist für viele Eltern ein grosser Schock, der nicht nur das Leben des Kindes, sondern auch das ganze Familienleben gravierend verändert. Die Herausforderungen seien vielfältig sagte Gesundheitsgeograph Oliver Grübner am Nursing Science Symposium, das am 19.1.24 an der UZH stattfand. Er stellte an der Tagung die Ergebnisse eines transdisziplinären Workshops und einer Konferenz mit Teilnehmenden aus den Bereichen der klinischen Praxis und Patientenvertreter:innen vor. Veranstaltet wurde das Symposium vom UZH-Institut für Implementation Science in Health Care und dem Zentrum Klinische Pflegewissenschaft am Universitätsspital Zürich.

Herausfordernde Betreuung

Grübner beschrieb den Verlauf ab Diagnose DMD: An erster Stelle stünden Trauer und Angst um die Zukunft des Kindes; hinzukomme, dass die nachlassende Muskelkraft und Mobilität des Kindes, immer wieder neue Anpassungen an den Alltag erfordere, was nicht zuletzt auch finanziell herausfordernd sei. Die betroffenen Kinder benötigen im Teenageralter einen Rollstuhl und sind auf Hilfe angewiesen; streben gleichzeitig als junge Erwachsene aber auch nach mehr Freiraum und Unabhängigkeit. So suchen die Eltern ständig nach geeigneten Therapien und Hilfsmitteln, die die Lebensqualität des Kindes verbessern können. Die Organisation der Pflege und Betreuung wird mit fortschreitender Zeit immer aufwendiger. Auch die Sorge um die soziale Integration und Teilhabe des Kindes in der Schule und in der Gesellschaft belastet die Eltern. Und das Elternpaar muss zudem für sich selbst und mögliche Geschwister Sorge tragen, um all die Herausforderungen gemeinsam zu stemmen. Eine Situation, die keine Familie allein bewältigen kann.

Um die Familien zu unterstützen, sei es dringend notwendig, sich auf einen familienzentrierten Ansatz in der Gesundheits- und Sozialfürsorge zu konzentrieren, sagte Oliver Grübner. Es sei zum Beispiel zu klären, welche digitale Plattformen die Resilienz von DMD-Patienten und ihren Familien unterstützen und fördern könnten. Der Gesundheitsgeograph hat bereits viel Erfahrung im Bereich Social-Media und Gesundheit gesammelt. So wurde er vor zwei Jahren für seine Auswertungen von Social-Media-Posts im Zusammenhang mit seelischer Gesundheit ausgezeichnet. An der Tagung betonte er, dass in Bezug auf den Umgang mit neuromuskulären Krankheiten nach wie vor Forschungsbedarf bestehe.

Es seien unter anderem folgende Fragen, die geklärt werden müssten: Wie nützlich sind Plattformen für hilfesuchende Eltern? Welche Informationen benötigen die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu welchem Zeitpunkt? Und wie können Suchmaschinen, gesundheitsbezogene Apps, Internetseiten und sogar Smart-City-Angebote oder Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz sie unterstützten?

Digitalisierung als Booster

In zwei Übersichtsstudien (siehe unten) ist Gesundheitsgeograph Oliver Grübner zusammen mit anderen Forschenden diesen Fragen nachgegangen. Wie er am Nursing Science Symposium berichtete, haben er und seine Co-Autoren auch Datenbanken angeschaut, die in den letzten zehn Jahren den Zusammenhang von Kindern mit krankheitsbedingter Behinderung und digitalen Plattformen thematisierten.

Fazit: Es gibt nur begrenzte wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die Nutzung digitaler Plattformen im Zusammenhang mit Behinderungen bei Kindern. «Auch unsere Workshop-Teilnehmenden äusserten den dringenden Bedarf an digitalen Plattformen wie Marktplätzen, um schnelle und zeitnahe Hilfe zu finden, an einem geografischen Verzeichnis für zugängliche und spezialisierte Fachleute oder Therapeut:innen mit der Möglichkeit, auch Online-Konsultationen in Anspruch zu nehmen, sowie an strukturierteren Informationen über finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten», sagte Grübner. Digitale Plattformen und Dienste seien aber nur dann von zusätzlichem Nutzen für die soziale Unterstützung und die Prävention psychischer Erkrankungen, wenn sie zuverlässige Informationen und sichere digitale Orte für soziale Interaktion bieten. Dies gelte insbesondere für die Schweiz, wo dieses Thema bisher noch nicht ausreichend wissenschaftlich begleitet werde. Auch müssten ethische und datenschutzrechtliche Aspekte mit in die Untersuchungen einbezogen werden.

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Es gibt noch viel zu tun, bis Kinder und Jugendliche mit DMD und vergleichbaren Krankheiten selbständig, sicher und wohlbehalten von Ort zu Ort kommen können.

Oliver Grübner
Gesundheitsgeograph

Reisen mit Rollstuhl

In der Schweiz rücke zudem ein entscheidender Moment näher, so Grübner, denn Ende 2023 sei die 20-jährige Frist für die Umsetzung des barrierefreien öffentlichen Verkehrs abgelaufen. Das Bundesgesetz über die Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen (BehiG) und die Verordnung über die Anpassung des öffentlichen Verkehrs an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen (VBBo) schreiben vor, dass alle Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs vollständig zugänglich sein müssen.

Doch noch seien Lösungen für Menschen mit Behinderung, die zum Beispiel eine bessere Mobilität, Zugänglichkeit und Teilhabe gewährleiste noch lange nicht durchgesetzt. Durch den Einsatz von Sensoren, Apps oder künstlicher Intelligenz, könnten die Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit Behinderung besser erkannt und erfüllt werden. Zum Beispiel könnten intelligente Ampeln oder Verkehrssysteme die Sicherheit und den Komfort von Fussgängern oder Rollstuhlfahrern erhöhen. Die Lösungen der Smart Cities könnten die Lebensqualität und die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung verbessern. Es gebe noch viel zu tun, bis Kinder und Jugendliche mit DMD und vergleichbaren Krankheiten selbständig, sicher und wohlbehalten von Ort zu Ort kommen könnten, sagte Grübner.