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Osteuropainstitut

«Kulturkrieg gegen den Westen»

An der UZH entsteht ein neues Institut mit dem Ziel, Osteuropa historisch, politisch und kulturell besser zu verstehen. Die Slawistin Sylvia Sasse und der Historiker Jeronim Perović über die «russische Welt», den Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen.
Interview: Thomas Gull / Bilder: Stefan Walter
Jeronim Perović und Sylvia Sasse vor dem Slavischen Seminar
Leiten das neue Osteuropainstitut: Jeronim Perović und Sylvia Sasse vor dem Slavischen Seminar. (Bild: Stefan Walter)

Frau Sasse, Herr Perović. Sie gründen an der UZH ein Osteuropainstitut. Was gehört eigentlich zu Osteuropa, geografisch, politisch und kulturell?

Sylvia Sasse: Das wird immer noch diskutiert. Vor dreissig Jahren hat der US-Historiker Larry Wolff das Buch «Inventing Eastern Europe» publiziert. Wolff argumentiert, dass Osteuropa nicht nur eine Region sei, sondern auch ein Konzept, das im ausgehenden 18. Jahrhundert in Westeuropa dazu diente, die Bevölkerung ostwärts als nicht zivilisiert und aufgeklärt abzuwerten. Osteuropa wurde, wie schon zuvor der Orient, als das Andere des Westens konzipiert. Das ging einher mit einer negativen Einschätzung der Slawen als Volk, einem Antislawismus. Das heisst, wir haben es gleichzeitig mit geografischen, politischen und kulturellen Konzepten zu tun, mit Fremd- und Selbstbeschreibungen.

Jeronim Perović: Was genau die Forschung unter Osteuropa versteht, ist letztlich das Produkt historischer Entwicklungen. Würde man heute anfangen, über Osteuropa zu forschen, würde man den Raum wohl anders definieren. Der erste Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der UZH wurde 1971 eingerichtet, mit Carsten Goerke als Professor. Das war mitten im Kalten Krieg, als der «Eiserne Vorhang» West und Ost eindeutig voneinander abgrenzte. Heute ist das nicht mehr so klar. Hinzu kommt, dass Osteuropa nicht nur ein sehr grosser Raum ist, sondern auch sehr heterogen – kulturell und politisch. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Das Osteuropainstitut soll an der UZH dafür die nötigen Kompetenzen bereitstellen.

Sasse: Für uns ist es in diesem Kontext nicht einfach, zu entscheiden, wie wir unser zukünftiges Institut nennen wollen, denn wir forschen und lehren zu Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa sowie den ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und in Zentralasien. Allein Russland reicht geografisch bis nach Asien, und dieser Raum lässt sich nicht nur geografisch definieren, er ist entstanden durch imperiale Eroberungen und koloniale Strategien.

Der Ukraine-Krieg ist ein Ergebnis des imperialen und kolonialen Denkens von Putin. Wie hat der Krieg die politischen, sozialen und kulturelle Dynamiken in Osteuropa verändert?

Perović: Ich sehe Parallelen zu den Sezessionskriegen im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren, als zunächst Slowenien und Kroatien unabhängig werden wollten, Serbien aber mit gewaltsamen Mitteln den Zusammenhalt des gemeinsamen Staates unter serbischer Vorherrschaft anstrebte. Im Grunde genommen handelt es sich beim ukrainischen Abwehrkampf um einen verspäteten Sezessionskrieg. Die Ukraine weiss, dass sie sich von Russland abgrenzen muss, um als eigenständige Nation bestehen zu können. Russland dagegen sieht die Ukraine als untrennbaren Teil einer historisch gewachsenen «russischen Welt».

Sasse

Die Proteste und die Revolution in der Ukraine und in Belarus sind eine absolute Bedrohung für Putins Vision einer russischen Welt.

Sylvia Sasse
Slawistin

Sasse: In der Ukraine geht es jedoch nicht nur um eine nationale oder kulturelle Abgrenzung, sondern auch um eine politische: Die Menschen in der Ukraine wollen nicht in einer Autokratie leben, sie wollen nicht von der Ideologie der «russischen Welt», die Putin vertritt, dominiert werden. Die Revolutionen in Osteuropa, die niedergeschlagene in Belarus und die in der Ukraine, waren stets Revolutionen für Demokratie, für einen Rechtsstaat, für einen Anschluss an Europa. Putin bezeichnet diese Revolutionen stets als Staatsstreich oder Putsch des Westens; das ist auch einer der Gründe, weshalb er diesen Krieg 2014 begonnen hat. Die Proteste in Belarus und die Revolution in der Ukraine sind eine absolute Bedrohung für Putins Autokratie und seine Ideologie einer «russischen Welt».

Mit dem Ukraine-Krieg versucht Putin, einen Teil des Machtverlusts Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion wettzumachen, indem die Ukraine unterworfen und in den russischen Einflussbereich zurückgeholt wird. Hat er damit nicht das das Gegenteil erreicht?

Sasse: Ja, in der Tat. Denn die vielfältigen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland wurden durch den Krieg zerstört. Es sind vor allem russischsprachige Ukrainer:innen, die von Putins Krieg getötet werden, das heisst, es sterben vor allem jene, die angeblich «gerettet» werden sollten. Viele der russischsprachigen Ukrainer:innen haben inzwischen einen Sprachwechsel vollzogen und sprechen jetzt Ukrainisch. Das zeigt vor allem, dass es Putin nicht um diese Menschen geht, sondern um die Erhaltung seiner Macht.

Perović: Ein Beleg dafür ist, dass auch in Familien oft beide Sprachen gesprochen wurden, Ukrainisch und Russisch, und das nicht als Problem empfunden wurde. Ich schaue gerade die Serie «Diener des Volkes», in der Volodymyr Selenskyi den ukrainischen Präsidenten spielt. Selenskyi spricht durchgängig Russisch, obwohl die Serie nach der Krym-Annexion von 2014 und dem Krieg im Donbass aufgenommen wurde. Das hat sich erst mit dem massiven russischen Angriffskrieg ab 2022 grundlegend geändert. Heute spricht Selenskyi konsequent Ukrainisch und viele Ukrainer, die vorher Russisch gesprochen haben, tun es ihm gleich. Sprache ist zum Merkmal der Abgrenzung geworden. Die russische Sprache steht für Krieg und Kreml-Propaganda, und dagegen wehrt sich die Ukraine.

Propaganda spielt im Krieg eine wichtige Rolle. Frau Sasse, Sie analysieren vor allem die russische Staatspropaganda. Welche Botschaften vermittelt sie? 

Sasse: Die russische Desinformation und Propaganda zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur einen Informationskrieg, sondern auch einen Kulturkrieg führt. Dieser richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den sogenannten kollektiven Westen. Dabei verfährt die Propaganda meistens nach dem Prinzip der Verkehrung ins Gegenteil – darüber habe ich ein Buch geschrieben. Das heisst, sie unterstellt konsequent dem Westen, das zu tun, was eigentlich in Russland passiert: einen Angriffskrieg zu führen, eine Diktatur zu errichten, Meinungsfreiheit nicht zu schützen und moralisch korrupt zu sein. Auf diese Weise wird der Angriff Russlands auf die Ukraine als Widerstand gegen den Westen, als Verteidigung und sogar als Entkolonialisierung strategisch uminterpretiert. Dazu gehört auch die abstruse Behauptung, die Ukraine zu «entnazifizieren», die bis heute aufrechterhalten wird. Es geht darum, die gesamte westliche Kultur zu verunglimpfen. Russland mischt sich auch in die Politik der westlichen Länder ein, etwa über die gezielte und lokal zugeschnittene Auslandspropaganda von RT (ehemals Russia Today). 

Welche Argumente werden da verbreitet?

Sasse: Da geht es darum, die Demokratien gezielt zu spalten, etwa mit Desinformation über Klimapolitik, Migration, Genderthemen. Viele politische Kräfte nehmen diese Narrative hier dankbar auf und nutzen sie für ihre Zwecke. Auch werden auf RT westliche Medien als Staatsmedien dargestellt, wobei sich RT als «zweite Meinung», als alternatives Medium der Wahrheit ins Spiel bringt. Typisch sind auch die Kampagnen, die darauf abzielen, die Ukrainer:innen, die in Deutschland sind, zu verunglimpfen als Sozialhilfeempfänger, die den anderen Sozialhilfeempfängern Geld wegnehmen. Die Propaganda ist in Deutschland zugeschnitten auf rechte Parteien wie die AfD beziehungsweise Parteien wie Die Linke, die mit antiamerikanischen Narrativen bedient wird.

Perović: Hatte die russische Propaganda den Krieg gegen die Ukraine zunächst als «Militäroperation» gegen vermeintliche Nazis und das faschistische, die Bevölkerung unterdrückende Regime in Kyiv zu rechtfertigen versucht, so wird heute vor allem der Abwehrkampf gegen den «kollektiven Westen» betont. In der offiziellen russischen Lesart wird der Westen beschuldigt, die Ukraine als Werkzeug zu benutzen, um Russland zu schwächen oder gar zu zerschlagen. Nur: Weil der Westen die Ukraine ja tatsächlich in grossem Umfang militärisch unterstützt, erscheint die russische Propaganda vielen in Russland jetzt tatsächlich recht plausibel. Der Kreml nutzt die Vorstellung, dass sich Russland in einem Existenzkampf befinde, um an die patriotischen Gefühle der Bevölkerung zu appellieren – und dies scheint zu wirken. Für die weitere Kriegsentwicklung verheisst dies nichts Gutes, denn es ist unwahrscheinlich, dass Russland von der Ukraine ablassen wird. Gelingt es Putin, nur schon die rund 20 Prozent des ukrainischen Territoriums zu annektieren, die Russland bereits besetzt hält, dann kann er das als Sieg ausweisen, weil es ihm gelungen ist, dem gesamten «kollektiven Westen» erfolgreich die Stirn zu bieten.

Der Westen hat lange Zeit auf eine friedliche Koexistenz mit Russland gesetzt, «Wandel durch Handel» war ein Mantra, das vor allem die Ostpolitik Deutschlands geprägt hat. Mit dem Ukraine-Krieg hat Russland dieses Kapitel beendet, vielleicht auch eine Illusion zerstört. Weshalb hat sich Russland vom Westen abgewandt?

Perović: «Wandel durch Annäherung» war die Idee, auf der ab Ende der 1960er-Jahre die Entspannungspolitik von Bundeskanzler Willy Brandt basierte. Das hatte damals seine Berechtigung. Es herrschte der Kalte Krieg, die jeweiligen Einflusszonen und Grenzen waren unbestritten. Die beiden Deutschland erkannten sich faktisch an, wenn auch nicht völkerrechtlich. Vom Ausbau des Handels erhoffte man sich nicht nur positive Effekte für die Wirtschaft, sondern auch für die politischen Beziehungen, für Stabilität. Was vor fünfzig Jahren begann, hätte spätestens nach der Krym-Annexion 2014 hinterfragt werden müssen. Dennoch hat die deutsche Regierung das 2015 lancierte Projekt des Baus einer zusätzlichen Gasleitung aus Russland, der Gaspipeline Nord Stream 2, politisch unterstützt. Bei allem Verständnis für die Politik von Angela Merkel war das aus meiner Sicht ein Sündenfall.

Deutschland hätte ein anderes Zeichen setzen müssen?

Perović: Deutschland hätte sich im Energiebereich nicht noch abhängiger von russischem Gas machen dürfen, nachdem sich zeigte, dass sich Russland in eine derart problematische Richtung entwickelt. Weshalb die Politik darauf nicht reagierte, ist mir unverständlich.

Sasse: Insgesamt hat Europa 2014 nicht das richtige Zeichen gesetzt. Es war falsch, Putin gewähren zu lassen, sich die Krym einzuverleiben und diesen Kriegsherd im Osten der Ukraine schaffen zu können. Man hätte sich eine viel deutlichere Absage an Russland gewünscht. Insgesamt stehen wir, wie das Selenskyj zu Recht immer wiederholt, vor der Frage, inwieweit sich demokratische Länder von Autokratien, Terrorregimen und einer mafiös organisierten Wirtschaft abhängig machen wollen.

Perovic

Wenn es Europa schafft, die Ukraine so lange zu unterstützen wie nötig, dann sind wir auch in Zukunft auf einem guten Weg.

Jeronim Perović
Historiker

Perović: Einverstanden, doch gleichzeitig hätten sich Europa und der Westen insgesamt viel stärker um eine Lösung der Ukraine-Krise bemühen müssen. Für die Umsetzung der Minsker Friedensabkommen hat man sich zwar ein paarmal an den Tisch gesetzt. Aber man war nicht wirklich ernsthaft bestrebt, eine gute und dauerhafte Lösung zu finden, dem Thema wurde auf europäischer Seite keine sehr hohe Priorität eingeräumt. Dabei hätte es damals durchaus einen gewissen Spielraum für Lösungen gegeben. Die Chance wurde verpasst, weil man nicht wahrhaben wollte, wie gefährlich die Situation ist.

Hat sich nicht auch Putin stark verändert? Anfänglich hat er mit dem Westen zusammengearbeitet. Jetzt stilisiert er diesen als Erzfeind. Was ist da geschehen?

Perović: Kriege haben ihre eigene Dynamik. Putins Ziel war es nicht, die Beziehungen zum Westen zu zerrütten, sondern in einer militärischen Blitzaktion einen Regimewechsel in Kyiv zu erzwingen, um die Ukraine wieder in die russische Einflusssphäre zurückzuführen. Denn die Ukraine nimmt in der Grossmachtvorstellung Putins einen zentralen Platz ein. Je mehr Verbündete Russland an sich binden kann, desto stärker wird die russische Position in der von Moskau angestrebten neuen multipolaren Weltordnung. Dass sich gerade die Ukraine, die nach Russland zweitwichtigste Republik in der damaligen Sowjetunion, immer weiter von Russland entfernte, suchte Moskau schon seit Jahren mit allen Mitteln zu verhindern. Als wirtschaftlicher und politischer Druck nicht ausreichte, versuchte man es mit militärischen Mitteln. Wäre es tatsächlich gelungen, die Ukraine schnell unter Kontrolle zu bringen, hätte es wohl einen Aufschrei im Westen und weitere Sanktionen gegeben, aber die Beziehungen hätten sich wohl schnell wieder normalisiert. Es ist anders gekommen. Nun führt Russland einen territorialen Eroberungskrieg, der noch Jahre andauern kann. Putin sieht sich in historischer Mission und nimmt dafür die nachhaltige Zerrüttung der Beziehung mit dem Westen in Kauf. 

Sasse: Wichtig ist, nicht nur auf die Aussenpolitik zu schauen. Innenpolitisch kann man seit langer Zeit sehen, wie die staatliche Repression und Willkür seit zirka 2008 sukzessive verstärkt wurde. Der Politikwissenschaftler Robert Horvath schrieb schon 2013 von einer präventiven Konterrevolution. Und Putins Kulturkrieg richtet sich ja vor allem gegen die eigene Bevölkerung. Im Verbund mit der russisch-orthodoxen Kirche werden Homosexualität, Queerness, Feminismus oder Wokeness als die eigentliche Bedrohung der Menschheit dargestellt und nicht etwa die eigenen Kriege. Kritische Kunst oder etwa das Zeigen ukrainischer Kunst oder Filme wird unterbunden, indem beispielsweise Bombendrohungen inszeniert werden, um Filmvorführungen zu verhindern. Bereits ab 2012 wurden die Agentengesetze eingeführt, die Kritik an der Politik als Russophobie darstellen und die Arbeit von NGOs, Medien und Privatpersonen massiv erschwert bzw. verunmöglicht haben, inzwischen gibt es, wie auch in Belarus, auch wieder Extremistenlisten, auf denen nicht nur oppositionelle Politiker:innen, sondern auch Künstler:innen stehen. Wir haben zu dieser zunehmenden Repression verschiedene Forschungsprojekte durchgeführt, unter anderem zu drei grossen Schauprozessen der 2010er-Jahre im Bereich der Kunst, die den Missbrauch der Justiz für Zensur zeigen.

Russland wurde kulturell gleichgeschaltet?

Sasse: Es wurde einerseits versucht, durch neue Gesetze Kritik an der Kirche zu verbieten, indem Künstler:innen untersagt wurde, religiöse Symbole zu verwenden. Dies wird konsequent als «Schüren religiösen Hasses» ausgelegt. Seit 2022 wird Kritik am Krieg als Diskreditierung der russischen Armee und beteiligter Behörden interpretiert und führt zu teilweise langen Gefängnisstrafen. Das Justizsystem ist völlig korrupt und politisch gesteuert. Dennoch gibt es immer wieder mutige Künstler:innen und Bürger:innen, die mit kleinen Aktionen zeigen, dass sie sich nicht korrumpieren lassen. Gleichgeschaltet sind vor allem die Medien, die die Ideologie der «russischen Welt» unter die Masse bringen. Das Ausmass der Propaganda und ihre Aggressivität übersteigen nach meiner Beobachtung die Propaganda zur Zeit der Sowjetunion bei Weitem.

Perović: Ich glaube, es ist nicht nur Propaganda, sondern es sind auch bestimmte gesellschaftliche Befindlichkeiten, die möglich machen, dass staatliche Narrative akzeptiert werden. 

Was kommt denn bei der Bevölkerung gut an?

Perović: Etwa die Idee, Russland brauche Einheit, um sich erfolgreich entwickeln zu können. Den Entwicklungsweg gibt der Staat vor, so wie früher die kommunistische Partei, welche sich als Lenkkraft der Gesellschaft verstand. So gesehen ist jede noch so kleine Kritik potenziell schädlich. Opposition darf vernichtet werden. Diese Vorstellung ist tief in der Gesellschaft verankert, und deshalb ist das, was heute in Russland passiert, auch möglich. 

Wie geht der Ukraine-Krieg aus?

Sasse: Ich habe dazu eine Utopie. Er geht so aus, dass die Ukraine ihre Gebiete zurückbekommt. Und zwar mit der Unterstützung derjenigen Länder, die sich für die Demokratie in der Ukraine einsetzen. Und ich hoffe, dass sich in Russland die Bevölkerung gegen das verbrecherische Regime wehrt, auch wenn das ziemlich unwahrscheinlich ist.

Das klingt in der Tat utopisch.

Sasse: Natürlich ist es utopisch. Aber mit dieser Utopie sei gesagt, dass die Zukunft nicht einfach passiert, sondern dass es auch an uns ist, diese herbeizuführen. Es führt kein Weg daran vorbei, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, wenn wir unsere eigene Souveränität behalten wollen.

Perović: Die Frage ist: Was ist, wenn die Ukraine verliert? Das würde Putin unglaublich Auftrieb geben. Er würde sich gestärkt fühlen und allenfalls weitere Eroberungsziele ins Visier nehmen. Ein Sieg Russlands würde Russland unter Umständen noch attraktiver für rechtspopulistische Gruppierungen machen, gerade auch in Europa. Das ist ein Test für Europa. Deshalb wird ganz entscheidend sein, ob die Solidarität mit der Ukraine anhält. Wenn es Europa schafft – und ich möchte nicht von den USA sprechen, denn eigentlich müssten wir das selber hinkriegen –, die Ukraine so lange zu unterstützen wie nötig, dann sind wir auch in Zukunft auf einem guten Weg. Wenn wir das nicht schaffen, dann sehe ich grosse Probleme auf Europa zukommen.

Es ist an der russischen Bevölkerung, sich von diesem Regime zu befreien.

Sylvia Sasse
Slawistin

Ist eine Rückkehr zu einer friedlichen, konstruktiven Zusammenarbeit mit Russland vorstellbar? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?

Sasse: Ich halte es für ausgeschlossen, dass das mit Putin passiert. Er hat sich inzwischen in eine Situation hineingesteigert, aus der es, glaube ich, keinen Weg zurück mehr gibt. Das wäre nur mit einem radikalen Machtwechsel in Russland möglich. Und der müsste so viele Schichten des politischen Systems, der Geheimdienste, des wirtschaftlichen Systems, das immens profitiert von dieser Regierung, betreffen, dass das fast nicht vorstellbar ist. Es ist an der russischen Bevölkerung, sich von diesem Regime zu befreien.

Perović: Wovor ich ein bisschen Angst habe, ist ein Waffenstillstand, bevor die Ukraine die verlorenen Gebiete oder zumindest grosse Teile davon zurückerobert hat. Denn dann könnte sich Putin als derjenige darstellen, der wieder kooperieren möchte, als der «Gute» sozusagen. Meine Befürchtung ist, dass viele in Europa den Waffenstillstand zum Vorwand nehmen würden, um für eine Rückkehr zur Normalität zu plädieren. Ein Waffenstillstand zu diesem Zeitpunkt wäre also problematisch. Das ist das Dilemma an dieser Geschichte. Einerseits wünschen wir dem Land Frieden und den Menschen Ruhe. Andererseits, wenn das jetzt passiert, spielt es Putin in die Hände. Dann hätte er gewonnen.

Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen UZH Magazin «Gesunde Frauen und Männer»

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