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Labortiere

Weniger Stress, bessere Forschung

Das Team von Urs Meyer, Professor am Institut für Veterinärpharmakologie und -toxikologie der UZH, hat eine neue Methode entwickelt, um Mäusen pharmazeutische Substanzen via Mund zu verabreichen. Sie bringt verschiedene Vorteile und soll nun im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 79 «Advancing 3R» breit implementiert werden.
Interview: Kurt Bodenmüller
Mit der Verabreichungsmethode MDA trinken die Mäuse einen Wirkstoff freiwillig von der Pipettenspitze, da dieser in süsser, verdünnter Kondensmilch gelöst ist. (Bild: Marco Finsterwald)

Bevor neue Wirkstoffe am Menschen geprüft werden können, schreibt das Gesetz Studien an Versuchstieren vor. Da die meisten therapeutischen Wirkstoffe via Mund eingenommen werden, werden auch Mäuse und Ratten oral behandelt. Wie funktioniert das standardmässig?

Urs Meyer: Die mit Abstand am häufigsten angewandte Methode, um Nagetieren Substanzen oral zu verabreichen, erfolgt mit der sogenannten Schlundsonde. Dem Tier wird via Rachen ein Schlauch in die Speiseröhre bis in den Magen eingeführt und der Wirkstoff appliziert. Dazu muss man das Tier zuerst am Nacken mit einem geschulten Griff fixieren. Denn ein Nagetier will nicht einfach von sich aus eine unbekannte Substanz zu sich nehmen – weil sie ihm beispielsweise gar nicht schmeckt.

Die Verabreichung erfolgt also unfreiwillig?

Genau. Entscheidend für die Forschung ist, dass man auf diese Art die Dosierung und den Zeitpunkt der Verabreichung kontrollieren kann. Möglich ist auch, eine Substanz via Trinkwasser oder via Futter zu verabreichen, was für das Tier klar weniger stressig ist. Allerdings weiss der Forscher dann nicht, wieviel das Tier von einem Stoff aufgenommen hat und wann.

Was sind die Nachteile des Schlundsonde-Verfahrens?

Für die Maus bedeutet bereits die starke Fixierung Stress. Das Tier wird nicht anästhesiert, ist also während der Prozedur wach. Zudem kann das Einführen der Sonde zu Irritationen oder Gewebeverletzungen an der Speiseröhre oder im Magen führen, insbesondere wenn die durchführende Person nicht so geübt ist. Hinzu kommt, dass die Methode auch für Forschende stressig sein kann. Sie wissen, dass die Maus gestresst ist, und sind vielleicht unsicher, ob sie das Tier dabei sogar verletzen.

Ihr Team hat vor einiger Zeit eine schonendere Methode entwickelt, um Labormäusen Wirkstoffe oral zu verabreichen. Wie kam es dazu?

Für uns war es eine wissenschaftliche Notwendigkeit, eine alternative Methode zu entwickeln. Wir machen Grundlagenforschung zu Krankheiten der Hirnentwicklung wie Autismus oder Schizophrenie. An Mäusen studieren wir, wie Umwelteinflüsse die frühe Hirnentwicklung stören und wie sich dies später auf ihr Verhalten auswirkt. In Zusammenarbeit mit mehreren Pharmafirmen testen wir auch neue therapeutische Wirkstoffe am Tiermodell.

Vor rund vier Jahren mussten wir in einem Experiment Jungtieren eine Substanz während drei Monaten täglich oral verabreichen. Gestartet haben wir mit Mäusen, die nur drei bis vier Wochen alt sind. Und je kleiner eine Maus ist, desto schwieriger ist das Standardverfahren. Uns war klar, dass wir das Experiment so nicht durchführen können. Denn auch Stress, insbesondere chronischer, beeinflusst das Verhalten der Mäuse. Die regelmässige Substanzgabe mittels Schlundsonde hätte unsere Resultate zu stark «vernebelt». Deshalb mussten wir eine möglichst stressfreie Methode finden.

Was haben Sie gemacht?

Aus Verhaltensexperimenten wussten wir, dass Mäuse relativ einfach zu trainieren sind, wenn Substanzen schmackhaft sind – wie etwa verdünnte Kondensmilch. Das mögen sie, und ohne grosses Training trinken die Tiere solche Stoffe freiwillig. Die verdünnte Kondensmilch haben wir den Mäusen mit einer konventionellen Mikropipette zum Trinken angeboten und bereits nach kurzer Zeit, also mit minimalem Training, haben sie freiwillig davon getrunken. Wir dachten: «wow», das ist es. Das Verfahren heisst «Micropipette-guided Drug Administration», kurz MDA.

Urs Meyer, Professor am Institut für Veterinärpharmakologie und -toxikologie

Die verdünnte Kondensmilch haben wir den Mäusen mit einer konventionellen Mikropipette zum Trinken angeboten und bereits nach kurzer Zeit, also mit minimalem Training, haben sie freiwillig davon getrunken. Wir dachten: «wow», das ist es.

Urs Meyer
Professor für Veterinärpharmakologie

Wie gewöhnen sie die Mäuse daran, im Labor von einer Pipette zu trinken?

Begonnen haben wir ebenfalls mit dem Nackengriff. Am ersten Tag, während die Maus so fixiert ist, führt man die Pipettenspitze an ihren Mund, zeigt ihr so die Substanz und sie trinkt davon. Schon am zweiten Tag genügt es, die Maus auf den Käfig zu legen und bloss am Schwanz festzuhalten, damit sie von der Pipette trinkt. Und am dritten Tag trinkt die Maus freiwillig ohne jegliche Fixation.

Da Mäuse nicht erbrechen können, sind sie gegenüber neuen Substanzen sehr vorsichtig. Sie probieren zuerst nur sehr wenig davon und warten ab. Passiert nach etwa zwei Stunden nichts, und ist die neue Substanz schmackhaft, verlieren sie rasch die anfängliche Zurückhaltung. Der Zucker aktiviert ihr Belohnungszentrum. Deshalb sind nur zwei Tage Training nötig.

Was sind die Vorteile der neuen Methode?

Wir haben MDA primär für die chronische Gabe von Substanzen entwickelt. Für die Mäuse bedeutet sie massiv weniger Stress, da es keine Fixierung und keine Schlundsonde mehr braucht. Somit entfällt auch das Risiko potenzieller Gewebeschädigungen. In unseren Experimenten konnten wir den Mäusen eine Substanz täglich bis zu vier Monate lang geben, ohne dass ein Tier aus dem Versuch ausscheiden musste. Kondensmilch ist zudem sehr billig.

Wie stellen Sie fest, dass die Versuchstiere weniger Stress empfinden und ihr Wohlbefinden verbessert wird?

Es gibt viele Methoden, wie man kontrollieren kann und gemäss Tierschutzgesetz auch überprüfen muss, ob es einem Tier gut geht. Gewisse Anzeichen für Stress sind bereits von Auge sichtbar, zum Beispiel wenn ein Tier Gewicht verliert, das Fell nicht mehr putzt, seine Aktivität reduziert oder sich zurückzieht. Stress lässt sich zudem auch physiologisch bestimmen, in dem man misst, wie viel Stresshormone – etwa Corticosteron oder Noradrenalin – ein Tier in einem Experiment freisetzt. Und hier haben wir massive Unterschiede von MDA im Vergleich zur Schlundsonde gemessen.

Gemäss Ihren Publikationen sind die Forschungsergebnisse mit der neuen Verabreichungsmethode qualitativ besser und zuverlässiger. Wieso?

Zuerst möchte ich betonen: Wir finden keineswegs, dass alle bisherigen Forschungsresultate, die mit dem Schlundsonde-Verfahren erzielt wurden, schlecht sind. Es gibt aber Fragestellungen, in denen die Forschungsdaten mit der MDA- im Vergleich zur Standardmethode qualitativ klar besser sind, insbesondere bei Verhaltenstests. Ein gestresstes Tier ist im Abwehrmodus und hat gar keine Lust, etwas Neues zu tun oder zu lernen.

Mit MDA hingegen sehen wir bei körperlichen Aktivitäten und kognitiven Tests all die negativen Einflüsse von Stress nicht. Unsere Ergebnisse zeigen klar, dass die Tiere mit MDA viel aktiver und erkundungsfreudiger sind, während gestresste Tiere sich zurückziehen und abwarten. Stress kann also bestimmte Verhaltensmuster kaschieren oder, etwa im Fall von Beruhigungsmitteln, auch verstärken.

Die Methode wurde 2020 erstmals publiziert. Ihr damaliger PhD-Student Joseph Scarborough hat die Entwicklung entscheidend mitgeprägt und wurde vom Schweizerischen 3R-Kompetenzzentrum (3RCC) mit dem Young 3Rs Investigator Award ausgezeichnet.

Dass MDA einen derart guten Anklang in Forschungskreisen gefunden hat, hat uns natürlich sehr gefreut. Viele Forschungsgruppen, primär von der UZH, sind auf uns zugekommen, wollten die neue Methode kennenlernen und arbeiten mittlerweile damit. Grosses Interesse kommt speziell von jungen Forschenden. Viele von ihnen hassen das Schlundsonde-Verfahren.

Die Reaktionen waren also durchwegs positiv?

Ja, nicht nur die wissenschaftliche Publikation stiess auf grosses Interesse. Auch auf den Sozialen Medien wie X (ehem. Twitter) haben sich etliche Forschungsteams gemeldet, die mit ähnlichen Verfahren experimentierten, aber noch nicht so weit waren wie wir. Innerhalb der UZH halfen vor allem die Mitarbeiterinnen der Abteilung Tierwohl und 3R, die Methode zu verbreiten. Sie haben den Draht zu sehr vielen Forschenden und wissen, wer welche Experimente plant. Erarbeiten Forschende ein neues Gesuch für einen Tierversuch, empfehlen sie, die neue Methode auszuprobieren.

Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 79 «Advancing 3R» des Schweizerischen Nationalfonds stehen Ihnen knapp eine Million Franken zur Verfügung, um MDA zu implementieren. Welche Ziele verfolgen Sie im NFP 79?

Die Forschenden setzen in ihrer Arbeit meist auf altbewährte Methoden. Wie kann man sie also dazu motivieren, etwas Neues zu erproben? Die Antwort ist: mit Daten. Ein Ziel ist, MDA im Vergleich zur Standardmethode von möglichst allen Seiten zu beleuchten, insbesondere hinsichtlich Pharmakokinetik und Stoffwechsel. Wir wollen wissen, in welchen Bereichen sie funktioniert und in welchen nicht. Wie verteilt sich eine Substanz im Körper? Haben die in der verdünnten Kondensmilch enthaltenen Zucker und Fette unerwünschte Effekte? Zudem wollen wir Alternativen dazu testen, etwa solche mit Süssstoffen anstatt Zucker. Zu all diesen Aspekten wollen wir – d.h. die Gruppe von Pal Johansson vom Universitätsspital Zürich und mein Team – Daten generieren und der Wissenschaft zur Verfügung stellen.

Verglichen mit dem Schlundsonde-Verfahren (links), dem derzeitigen Standard für die orale Substanzverabreichung bei Nagetieren, hat die Substanzgabe via Mikropipette MDA (rechts) Vorteile für Versuchstiere, Menschen und Forschungsdaten. (Illustration: Rodent MDA)

Wo liegen die Grenzen von MDA?

Ein Beispiel sind sehr bittere Substanzen, die ein Tier nicht freiwillig trinkt, selbst wenn sie in einer gesüssten Flüssigkeit gelöst sind. Von allen Substanzen, die wir bisher getestet haben, war dies allerdings erst ein einziges Mal der Fall. An Grenzen stösst die Methode auch bei Forschungsarbeiten, in denen der Stoffwechsel sehr detailliert untersucht wird. Hier kann jeder Inhaltsstoff der Kondensmilch die Messungen beeinflussen. Ich bin jedoch überzeugt, dass man in sehr vielen Forschungsbereichen die Schlundsonde durch MDA ersetzen kann.

Welche Hürden gilt es zu überwinden, damit MDA möglichst breit eingesetzt wird?

Dieser Aufgabe widmet sich primär Paulin Jirkof, 3R-Koordinatorin der Abteilung Tierwohl und 3R. Dazu nutzt sie die lokalen Netzwerke an der UZH, jene auf nationaler Ebene durch das 3RCC. International macht sie die Methode via Federation of European Laboratory Animal Science Associations (FELASA) einem breiten Publikum bekannt. Sie organisiert Seminare, erstellt Videos und Schulungsmaterial. In den von Zürich aus organisierten Kursen in Labortierkunde für Studierende und Wissenschaftler, die mit Tieren forschen, wird MDA schon heute im Theorieteil eingehend vorgestellt. Das ist für die Verbreitung sehr wichtig, da die Kurse obligatorisch sind.

Ein weiterer Fokus richtet sich auf Behörden und politische Entscheidungsträger, also zum Beispiel die kantonalen Veterinärämter und das eidgenössische Parlament.

Was braucht es noch?

MDA ist bereits für viele Forschungsziele anwendbar. Eine wichtige Ausnahme ist die Analgesie, die Schmerzlinderung. Wir haben noch keine Daten, die zeigen, dass ein Schmerzmittel dieselbe Konzentration im Blut oder im Gehirn aufweist und gleich wirkt, egal ob es gespritzt wird, via Schlundsonde oder mittels MDA verabreicht wird. Diese Lücke möchten wir nun schliessen. Sobald die Daten publiziert sind, gehen wir auf das Veterinäramt zu. Ziel ist, dass MDA auch für die Schmerzlinderung zugelassen wird.

Denken Sie, dass MDA zukünftig zur Standardmethode für die orale Verabreichung von Wirkstoffen wird?

Darauf arbeiten wir längerfristig hin. MDA soll auf gesetzlicher Ebene zur Standardmethode für orale Applikationen werden. Nur in Fällen, wo das nicht funktioniert, darf als Alternative das Schlundsonde-Verfahren eingesetzt werden. Im Moment ist es noch genau umgekehrt, doch das Potenzial der nahezu stressfreien oralen Substanzverabreichung ist riesig. Genau deshalb ist es zentral, dass 3R-Forschung finanziell unterstützt wird, und dafür bin ich dem SNF sehr dankbar. Denn Methoden zu entwickeln, die Tierversuche verbessern, reduzieren oder ersetzen, kostet Geld. Und davon bräuchte es in Zukunft noch viel mehr.

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