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Völkerkundemuseum

Was Europa übersehen hat

Während Jahrzehnten sah das Völkerkundemuseum der UZH seinen Auftrag darin, die Welt abzubilden. Heute arbeitet es die Geschichte der eigenen Sammlungen kritisch auf. Und versucht, die kolonial geprägte Geschichte seiner Objekte neu zu erzählen.
Andres Eberhard
Setzen sich kritisch mit der Herkunft von Sammlungsobjekten auseinander: Kurator Alexis Malefakis und die Direktorin des Völkerkundemuseums Mareile Flitsch begutachten eine Harzfackel aus Rwanda.

«Aus der Plünderung von Peking stammend». Dieser Vermerk steht neben zahlreichen Objekten, die derzeit im Völkerkundemuseum der UZH ausgestellt sind. Geschnitzte Wandtäfer aus Teakholz, Seidenroben, Bronzen, Rollbilder – vieles davon wurde vermutlich von Soldaten ums Jahr 1900 aus der chinesischen Hauptstadt, wenn nicht gar aus dem Kaiserpalast geklaut. Westliche Truppen hatten die Boxerbewegung niedergeschlagen, die den westlichen Einfluss und die Ausbreitung des Christentums in China bekämpfte, und waren bis in die chinesische Hauptstadt vorgedrungen, die sie ausplünderten. Dabei liessen die Soldaten Wert-, Kunst- und Alltagsobjekte in gewaltigem Ausmass mitgehen. Ein Teil davon landete in Zürich.

Einen Umgang finden

Und was jetzt? Vor dieser Frage steht Ethnologie-Professorin Mareile Flitsch, Kuratorin der Ausstellung und Direktorin des Völkerkundemuseums (VMZ). «Würden wir alles zurückschicken, machten wir es uns zu einfach», sagt Flitsch. Einerseits ist es im Einzelfall schwierig, Verkauftes von Geplündertem zu unterscheiden. Wenige Jahre nach der Plünderung Pekings dankte der letzte chinesische Kaiser ab, worauf haufenweise Gegenstände aus dem Kaiserpalast auf Trödelmärkten landeten. Andererseits ist nicht bekannt, wer die Urheber oder Eigentümer der Objekte sind und ob sie diese überhaupt zurückwollen. Deshalb erforscht Flitsch derzeit gemeinsam mit der chinesischen Gastkuratorin Yu Filipiak die Geschichte der Zürcher Sammlung. «Wir müssen anerkennen, dass wir vermutlich geplünderte Objekte besitzen. Und uns dann überlegen, wie wir damit umgehen.»

Grossteil geraubt

Die Frage der Provenienz – die Herkunftsgeschichte – von Objekten beschäftigt derzeit viele Museen und Sammlungen. Das Thema ist auch in der Öffentlichkeit sehr aktuell. So kam im Februar eine Untersuchung von Schweizer Museen (darunter auch das VMZ) und nigerianischen Partnern zum Schluss, dass ein Grossteil der Kulturgüter, die Schweizer Museen aus dem einstigen Königreich Benin besitzen, geraubt wurden. «Aufgrund der Signale aus Nigeria halte ich es derzeit für wahrscheinlich, dass es in diesem Fall Rückforderungen geben wird», sagt Alexis Malefakis, Kurator am Völkerkundemuseum mit Schwerpunkt Afrika. Allerdings sei es nicht immer so, dass die Urheber oder ihre Nachfahren die Objekte zurückwollen.

Wie die Chinesen lebten

Die Ausstellungen, die derzeit im Rahmen einer «Werkstattreihe» am VMZ zu sehen sind, beschäftigen sich nicht nur mit den Objekten, sondern auch mit der Geschichte ihrer Herkunft. Das ist ein Paradigmenwechsel, was die Rolle des Museums angeht. Über viele Jahrzehnte war die zweifelhafte Herkunft der Objekte nicht der Rede wert. Und wo sie es war, wie bei den Requisiten aus dem chinesischen Kaiserpalast, hatte der Vermerk «geplündert» einen völlig anderen Zweck. «Es war eher ein Echtheitszertifikat als ein Makel», sagt Flitsch.

Fragen stellen

Die Ausstellung, mit dem Titel «Plünderware?», die aktuell im VMZ zu sehen ist, wäre früher wohl als eine Art Völkerschau angepriesen worden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe es einen Hype um exotische Objekte aus dem Fernen Osten gegeben, so Flitsch: «Die Menschen bei uns wollten sehen, wie ‹die Chinesen› lebten.» Die Museen ihrerseits sahen ihren Auftrag darin, die «Welt» abzubilden, die aus heutiger Sicht geprägt war von kolonialen Stereotypen und durchsetzt mit Diskriminierung und Rassismus. Mit dem Thema der Völkerschauen beschäftigt sich demnächst die Ausstellung «Maskenspiel?» von Kuratorin Martina Wernsdörfer, am Beispiel von sogenannten Singhalesen-Schauen in Zürich (Eröffnung am 13. Juli). Die Ausstellungen der Werkstattreihe betonen die Unschärfen und das Unvollständige. Das Fragezeichen im Titel gehört genauso zum Konzept wie die fünf Fragen, anhand deren die Sammlungen und ihre Geschichten aufgearbeitet werden. Statt vorschnelle Antworten zu liefern, werden heute Fragen gestellt – an Besucherinnen, Urheber und an die Gesellschaft.

Gegengeschichte schreiben

Damit vollzieht das Museum einen Richtungswechsel, den das Fachgebiet der Ethnologie (ehemals Völkerkunde) bereits durchlaufen hat. Dessen Auftrag sei nicht mehr die vom kolonialen Blick verfälschte «Erkundung der Welt», sondern «Gesellschaften von innen her zu verstehen und deren Handeln nachvollziehen zu können», sagt Mareile Flitsch. «Wir wollen nicht die koloniale Zeitgeschichte weitererzählen, sondern die Gegengeschichten schreiben und zeigen, was Europa übersehen hat.»

Ins Gespräch kommen

Was also tun mit Objekten, deren Herkunft unklar oder gar zweifelhaft ist? «Wir setzen auf den Dialog mit den Urhebergemeinschaften», sagt Kurator Malefakis. «Das Kontrastprogramm zum schnellen Zurückschicken ist, vertrauensvoll mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.» Für seine Ausstellung «Hochzeitsreise?» im Rahmen der Werkstattreihe besuchte Malefakis Dörfer in Rwanda, die er mit der Hilfe des Archäologen Andre Ntagwabira von der Rwanda Cultural Heritage Academy als Urhebergemeinschaften von gewissen Objekten identifizierte. «Die Meinung dazu, was mit den Objekten passieren soll, war in den Dorfgemeinschaften sehr unterschiedlich. Manche wollten sie zurückhaben. Andere sagten, es sei doch gut, dass wir uns darum kümmern», erzählt er.

Wir wollen nicht die koloniale Zeitgeschichte weitererzählen, sondern Gegengeschichten schreiben und zeigen, was Europa übersehen hat.

Mareile Flitsch
Direktorin Völkerkundemuseum

Dazu muss man wissen: Längst nicht alle Gegenstände in Sammlungen, die in Besitz von Schweizer Museen sind, sind Raubware aus Königspalästen. «Das meiste sind Alltagsgegenstände, die als Geschenke in westliche Hände gerieten oder die am Markt gekauft wurden», sagt Museumsdirektorin Mareile Flitsch. Irgendwie gelangten diese Objekte in die Sammlung des VMZ. Diese Wege gelte es kritisch auszuleuchten. Da sie immer einen Bezug der jeweiligen Herkunftsregion zur Schweiz haben, benutzt Flitsch dafür den Begriff «Objekt-Diaspora.»

Sammler auf Hochzeitsreise

Schweizer Museen seien nun mal im Besitz dieser Güter, ergänzt Malefakis. «Ich persönlich habe die Objekte ja nicht geraubt. Doch nun fühle ich mich verantwortlich, etwas Sinnvolles damit zu machen.» In seinem konkreten Fall ist das eine Ausstellung über die Hintergründe der Sammlung des deutschen Kolonialsoldaten Hans Paasche, die sich in Zürcher Besitz befindet. Während über Paasche selbst, der auch als Buchautor tätig war, vieles bekannt ist, weiss man über die Herkunft der Objekte und über die Menschen, denen sie gehörten, praktisch nichts. «Korb aus Ruanda» – viel mehr als solche kurzen Notizen findet sich in der Dokumentation von Paasches Sammlung aus dem Jahr 1922 nicht.

Allerdings ist bekannt, dass Paasche eine Hochzeitsreise mit seiner Frau unternommen hatte, begleitet von einem Tross von rund sechzig Trägern. Vor Ort erfuhr Malefakis, dass einige der Objekte aus der Zürcher Sammlung in Rwanda traditionelle Brautgeschenke darstellten, wie etwa fein verzierte Körbe. In Rwanda konnte er auch Details zu den Objekten zusammentragen, über die bislang nichts bekannt war. Ein längliches, stabförmiges Objekt wurde als: «Bastbündel. Verwendung unbekannt» in der Sammlung inventarisiert. Von den Urhebergemeinschaften erfuhr Malefakis, dass es sich um eine Harzfackel handelt, die angezündet wurde, um einen Raum spirituell zu reinigen.

Ich persönlich habe die Objekte ja nicht geraubt. Doch nun fühle ich mich verantwortlich, etwas Sinnvolles damit zu machen.

Alexis Malefakis
Kurator Völkerkundemuseum

«Es geht aber bei diesen Besuchen vor Ort nicht in erster Linie darum, unsere Karteikarten zu füllen», betont Malefakis. Vielmehr wolle man die Frage stellen: Was wollen die Urhebergemeinschaften von uns? Und was bedeuten ihnen die Objekte in der Zürcher Sammlung heute noch? Wie es mit den Objekten der aktuellen Ausstellungen aus der Werkstattreihe weitergeht, ist noch ungewiss. Man stehe erst am Anfang eines Prozesses, so Malefakis.

Objekte als Ahnen

Die Frage des Eigentums ist dabei für die Urhebergemeinschaften nicht die einzig relevante. Für sie geht es auch um ihr kulturelles Erbe, das wiederum einen Teil ihrer Identität darstellt. «Für manche sind Objekte Ahnen», sagt Kuratorin Maike Powroznik. Sie erzählt von den Saamaka Marron, den Nachfahren von Sklaven, die Ende des 17. Jahrhunderts aus niederländischen Kolonialplantagen in Suriname geflohen waren. Das Völkerkundemuseum stellte vor einigen Jahren eine umfangreiche Sammlung aus dieser Zeit aus. Powroznik arbeitete eng mit den Saamaka Marron zusammen. Sie sagt: «Durch dieses Projekt haben sie sich neu gefunden. Statt der Opfergeschichte der armen ehemaligen Sklaven konnten sie ihre eigene Geschichte erzählen: die ihrer Selbstbefreiung.»

Auch für ihre aktuelle Ausstellung im Rahmen der Werkstattreihe hat Powroznik Menschen besucht, für die die Objekte im Völkerkundemuseum eine tiefere Bedeutung haben. Das Museum besitzt eine Objekt- und Fotosammlung einer relativ kleinen Gemeinschaft in Kolumbien, der Noanamá. Powroznik zeigt, wie der Sammler – ein polnischer Ethnologe – unter noch weiter zu klärenden Umständen über 2000 Objekte erwarb und an verschiedene europäische und nordamerikanische Museen verkaufte. Der Titel der Ausstellung: «Geschäftsidee?» Powroznik hat in Kolumbien vier Frauen der Noanamá getroffen. Eine von ihnen, eine Lehrerin, plant nun ein Schulbuch über das Objektwissen und Praxisworkshops für Schulkinder der Noanamá. «Das Projekt hat ihnen die Dimension ihrer eigenen Geschichte eröffnet», sagt Powroznik.

Ein pinkes Fragezeichen im Namen

Museumsdirektorin Mareile Flitsch sieht die künftige Aufgabe des Museums in der «kritischen Aufarbeitung der eigenen Sammlungen und ihrer Geschichte(n)». Und zwar im Austausch mit Experten und Expertinnen aus den Urhebergemeinschaften. «Die Frage des Eigentums muss im Einzelfall geklärt werden. Zentral ist, dass sie einen Zugriff bekommen auf die Kulturgüter.» Sie nennt als Beispiel die Sammlung Lorenz Löffler – ein Tonarchiv, das Indigenen in den Chittagong-Bergen in Bangladesch nach dem Bürgerkrieg bei der Identitätssuche half.

Das «Völki», wie das Völkerkundemuseum in Zürich lange genannt wurde, blickt auf eine Geschichte von etwa fünfzig Jahren zurück. Was das VMZ heute ist und was es sein soll: Die Fragen, die sich im Museum derzeit stellen, sind derart grundlegend, dass auch ein Namenswechsel diskutiert wird. Am Schriftzug über dem Eingang trennt auf jeden Fall schon mal ein pinkfarbenes Fragezeichen den Namen: «Völkerkunde?museum» heisst es dort nun, genauso wie auf der Website und in verschiedenen Drucksachen. Mareile Flitsch sagt dazu: «Eine allfällige Namensänderung darf kein Reinwaschen sein, sondern muss das Ergebnis einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sein.»

Dieser Artikel ist im UZH Magazin 2/23 erschienen.

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