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Entwicklungspsychologie

In der hedonistischen Tretmühle

Reich werden, sich für die Gesellschaft engagieren, fit bleiben: Persönliche Ziele geben uns Orientierung und Sinn. Und sie verändern sich im Lauf des Lebens. Zufrieden machen sie uns, wenn der Weg mindestens genauso wichtig ist wie das Ziel.
Roger Nickl
Auf dem Gipfel
Das Leben ist wie eine lange Bergtour – wir wandern von Ziel zu Ziel, von Gipfel zu Gipfel.

Das Leben ist wie eine lange Bergtour – zumindest aus dem Blickwinkel der Entwicklungspsychologie betrachtet. Wir wandern von Ziel zu Ziel – mal Richtung Gipfel, mal geradeaus einem Grat entlang. «Wir sind richtiggehende Ziel-Junkies», sagt Alexandra Freund. Selbst im Buddhismus, der sich der Wunsch- und Ziellosigkeit verschrieben hat, gibt es Ziele, sagt die Psychologin, die auch schon mit dem Dalai Lama auf einem Podium diskutiert hat – nämlich wunsch- und ziellos zu sein.

Persönliche Ziele geben unserem Leben eine Richtung, sie erfüllen es mit Sinn, motivieren uns, Dinge zu tun und manchmal zu lassen. Glaubt man Albert Einstein, dann macht es uns zufrieden, Ziele zu verfolgen. Vom Physik-Nobelpreisträger wird das Zitat überliefert: «Wenn du ein glückliches Leben willst, verbinde es mit einem Ziel, nicht aber mit Menschen oder Dingen.» Die Forschung von Alexandra Freund bestätigt dies: Ziele zu setzen, zu verfolgen und zu erreichen, ist ein wichtiger Faktor für unser Wohlbefinden und unsere psychische Gesundheit. Aber nicht nur – denn genauso wichtig ist, sich nicht in Ziele zu verbeissen und sich davon lösen zu können, wenn sie sich als unrealistisch erweisen. «Wenn ich zum Beispiel nach einem Semester merke, dass das Ingenieurstudium nicht das richtige ist, sollte ich nicht länger daran festhalten», sagt Freund, «wir sollten uns die Freiheit nehmen, Dinge wieder sein zu lassen.» Auch das trägt zur Zufriedenheit bei.

Am Anfang steht der Mangel

Die Psychologieprofessorin untersucht die psychische Entwicklung im Erwachsenenalter und sie gehört zum Leitungsgremium des Universitären Forschungsschwerpunkts «Dynamik Gesunden Alterns». Die Frage, wie und weshalb Menschen im Lauf ihres Lebens Ziele setzen und wie sich diese mit der Zeit verändern, spielt in ihrer Forschung eine zentrale Rolle. «Am Anfang stehen die Erfahrung eines Mangels oder eines Defizits und der Wunsch, dieser gezielt entgegenzuwirken», sagt die Psychologin. Das ist eine grosse Triebfeder für unser Tun, für unsere Entwicklung und für unser persönliches Glück. Haben wir ein Ziel erreicht, verliert es  allerdings meist im Nu seinen Glanz, und wir suchen uns ein neues. «Wir stecken in einer hedonistischen Tretmühle», sagt Freund.

Persönliche Ziele können ganz unterschiedlich sein. Sie reichen von den kleinen Dingen, die wir uns tagtäglich vornehmen (zum Beispiel eine Arbeit abschliessen, etwas Gutes kochen, ins Training gehen) bis zu den grossen Lebensthemen, die uns wichtig sind (etwa gesund bleiben, eine glückliche Partnerschaft führen, reich werden, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten). Was wir als erstrebenswert empfinden, ist allerdings volatil und wandelt sich mit zunehmendem Alter. Eine Zwanzigjährige hat ganz andere Vorstellungen davon, was sie erreichen will, als ein Siebzigjähriger.

«Die grossen Lebensziele sind vor allem ein Thema für Jugendliche», sagt Psychologin Freund. Junge Erwachsene beschäftigen sich mit der gewichtigen Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen und was sie alles erreichen möchten. Die Ziele, die sie sich setzen, sind meist auf Zugewinne gerichtet, wie Studien der Entwicklungspsychologin belegen. Es geht um Dinge, wie etwa den Schulabschluss zu schaffen, den Berufseinstieg zu finden, Karriere zu machen oder eine Familie zu gründen. «Alles ist auf Zuwachs hin orientiert», sagt Freund. Darauf, die Gipfel zu erklimmen.

Im mittleren Erwachsenenalter zwischen vierzig und sechzig verändert sich dann der Blickwinkel – weg von der jugendlichen Perspektive auf Zugewinne, darauf, das Erreichte aktiv zu erhalten. Ziele sind dann beispielsweise, die Beziehung zu pflegen und lebendig zu erhalten oder sich im Job weiterzuentwickeln. «Das hat nichts mit Stagnation zu tun», sagt Alexandra Freund, «Stabilität ist ein wichtiger Faktor für die Zufriedenheit in dieser Lebensphase – ganz im Gegensatz zu den Jüngeren, für die sie kein erstrebenswertes Ziel ist.»

Quote Alexandra Freund

Man sollte immer versuchen, das Gute zu sehen. Wenn im höheren Alter der Bewegungsradius kleiner wird, entdeckt man vielleicht die Schönheit des Gartens.

Alexandra Freund
Professorin für Entwicklungspsychologie

Nicht alles auf später verschieben

Wie die Psychologin festgestellt hat, neigen Menschen im mittleren Lebensalter dazu, Ziele, die ihnen wichtig sind, auf später zu verschieben. Freund nennt dieses Phänomen den Bucket-List-Effekt. Weil es in dieser Lebensphase zwischen Beruf und Familie oft wenig Platz für Eigenes, etwa für Hobbys, gibt, werden diese Dinge auf später vertagt – auf vermeintlich ruhigere Zeiten, wenn man nicht mehr arbeiten muss und die Kinder aus dem Haus sind.

Das sei keine besonders gute Strategie, sagt Freund. Besser sei, Kompromisse zu finden und diese Bedürfnisse in angepasster Weise in den Alltag zu integrieren. «Wenn klettern aus familiären Gründen nicht möglich ist, kann man mit der Familie dafür vielleicht ab und zu wandern gehen», sagt die Forscherin. Wichtige Dinge nicht ganz auf später zu verschieben, wirke sich positiv auf die persönliche Zufriedenheit aus. Und wer weiss: Vielleicht interessieren uns die Dinge, die uns mit Mitte vierzig wichtig sind, Mitte sechzig überhaupt nicht mehr.

Denn am Ende des Berufslebens verschieben sich die Ziele erneut. Die Pensionierung ist oft ein harter Schnitt in unserer Biografie. Und ein Revival der grossen Lebensfragen: Was will ich mit meinem weiteren Leben anfangen? Was möchte ich noch erreichen? – Endlich dem Hobby frönen? Mit dem Camper durch die Welt gondeln? Eine Strickgruppe gründen? Mich in der Kirche engagieren? Auf die Pensionierung sollte man frühzeitig vorbereitet sein, sagt Alexandra Freund, man dürfe sie nicht einfach so auf sich zukommen zu lassen.

Sich in der Freiwilligenarbeit zu engagieren, ist für viele Menschen im Pensionsalter eine attraktive Perspektive. In verschiedenen Studien hat Alexandra Freund zeigen können, dass ältere Menschen im Durchschnitt deutlich prosozialer sind und sich altruistischer verhalten als jüngere. Sie betreuen ihre Enkelkinder, arbeiten beispielsweise aber auch in Suppenküchen, vermitteln an Kursen ihr Fachwissen oder geben Nachhilfestunden oder Sprachunterricht für Migrantinnen und Migranten. Ein Grund für dieses Engagement sei wohl, dass die Älteren nicht als Belastung für die Gesellschaft wahrgenommen werden wollen, sondern etwas Positives dazu beitragen möchten, vermutet die Forscherin.

Verluste vermeiden

Nicht nur altruistische Ziele werden mit zunehmendem Alter wichtiger, sondern auch solche, die – angesichts der biologischen Alterung und des erhöhten Krankheitsrisikos – darauf ausgerichtet sind, Verluste zu vermeiden oder zu kompensieren. «Wichtig ist in dieser Lebensphase die Fähigkeit, Verlusterfahrungen in neue Ziele umzudefinieren», sagt Alexandra Freund und gibt das

Beispiel eines Physikers. Dieser musste in einem Projekt frustriert feststellen, dass er punkto Rechentempo nicht mehr mit den jüngeren Kolleginnen und Kollegen mithalten konnte. Dagegen verfügte er im Vergleich zu den Jüngeren über ein viel breiteres Wissen und grössere Erfahrung. Er konzentrierte sich deshalb darauf, die grossen physikalischen Zusammenhänge herzustellen – und überliess die rechnerische Detailarbeit den Jüngeren.

«Das hat er sehr geschickt gemacht», sagt Freund, «er hat einen Verlust – die abnehmende Rechengeschwindigkeit – kompensatorisch vermieden und positiv umgewertet.» Verluste zu vermeiden, sei für Junge eine stark negativ besetzte Strategie, hat die Forscherin herausgefunden, von älteren Menschen würde sie im Gegensatz dazu sehr positiv wahrgenommen. Man sollte immer versuchen, das Gute zu sehen, sagt Freund, wenn im höheren Alter zum Beispiel der Bewegungsradius kleiner wird, entdeckt man vielleicht die Schönheit des Gartens.

Passende Ziele setzen

Alexandra Freunds Forschung macht deutlich, wie wichtig es in allen Lebensphasen ist, sich attraktive Ziel zu setzen. Aber, sagt die Entwicklungspsychologin, es geht nicht einfach darum, ein Ziel irgendwie zur erreichen. «Der Augenblick, in dem ich daran arbeite, sollte ein guter sein.» Das heisst zum Beispiel: Genauso wichtig, wie das gesetzte Ziel, fünfmal pro Woche zu joggen, um sich fit zu halten, ist die Frage, wie man das konkret macht. Gehe ich allein oder zusammen mit anderen? Hat die Route Erlebnischarakter oder ist sie nur langweilig und anstrengend? Und muss es wirklich fünfmal die Woche sein, wären dreimal für mich nicht angemessener?

Diese qualitativen Aspekte sind entscheidend, ob uns ein Ziel zu verfolgen zufrieden und glücklich macht. «Ist der Weg nicht gut, ist es das Ziel auch nicht», sagt Alexandra Freund. In diesem Sinne: Machen wir uns auf zu unseren nächsten Zielen und freuen uns auf den Weg dorthin – möge er in Richtung Gipfel führen, geradeaus einem Grat entlang oder gemütlich bergab.

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