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Fachdidaktik

Zwischen Knittelvers und Kant

Professorin Antonie Hornung ist Didaktikerin mit Leib und Seele. Als Lehrerin am Zürcher Gymnasium Liceo Artistico und Dozentin an der Universität Zürich steht sie an der Schnittstelle zwischen Schule und Universität. Ein Porträt. 
Marita Fuchs
Fachdidaktikerin Antonie Hornung: Die deutsche Sprache in ihrer Eigenheit erfassen.

«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. ... Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!». Die Schülerinnen und Schüler der 3b des Zürcher Gymnasiums Liceo Artistico brüten über Kants Text «Was ist Aufklärung?». Die Sprache des deutschen Philosophen ist ihnen nicht vertraut, sie unterstreichen Wörter und Wendungen und setzen Fragezeichen daneben. Was sie nicht wissen: Ihre Lehrerin Antonie Hornung hat ihnen ein wichtiges Lernziel gleich mit der schwierigen Lektüre mitgeliefert: den Mut zu haben, sich ihres Verstandes zu bedienen.

Schüler im Unterricht mit schwierigen Texten zu konfrontieren, scheut Antonie Hornung nicht. Die Fachdidaktikerin für Deutsch ist davon überzeugt, dass es im Unterricht mit Schülern nicht darum gehen sollte, Komplexität zu reduzieren. «Mein Ziel ist es, mit den Schülerinnen und Schülern Strategien zu entwickeln, wie man mit schwierigen Texten umgehen kann», so ihr Credo.

Ein roter Faden durch die Disziplinen

Antonie Hornung ist eine engagierte Pädagogin. Sie unterrichtet seit über dreissig Jahren und träumte schon als Kind davon, mit der Kreide in der Hand vor der Tafel zu stehen. An der Universität Zürich lehrt sie seit 1989 Fachdidaktik Deutsch, zusätzlich erteilt sie interdisziplinär ausgerichtete Didaktikkurse.

Michael Pfister, einer ihrer ehemaligen Studenten, beschreibt begeistert, was er in diesem interdisziplinären Seminar bei Antonie Hornung gelernt hat: «Wir erhielten einen Überblick über verschiedene Textsorten, von narrativ über deskriptiv bis zu notierend, und arbeiteten an konkreten Schreibaufgaben in möglichst allen Fächern, von der Mathematik (Beschreibung eines Lösungsweges) bis zum Sport (Verfassen von Spielregeln). Die Verbindung zwischen den Fächern wurde nicht nur inhaltlich gestiftet, sondern durch das Schreiben, das zum roten Faden wird, der sich durch alle Disziplinen zieht.» Hornung zeigt ihren Studierenden, dass die Beschäftigung mit unterschiedlichen Fachsprachen auch ein ergiebiges Unterrichtsthema sein kann.  

Welt der Puzzletexte

Angehende Lehrerinnen und Lehrer auf den Schulalltag vorzubereiten, ist für Hornung, die selbst täglich im Liceo Artistico vor der Klasse steht, eine Herzensangelegenheit und Herausforderung. Man müsse am Ball bleiben, sagt sie. Es hat sich sehr viel in den Schulen verändert. Anders als früher werden die Schüler heute mit einer enormen Menge von Textsorten konfrontiert. «Wir leben in einer Welt der Puzzletexte.»

Lehrwerke und didaktische Materialien bestehen aus einer Kombination verschiedenster Bausteine: Fliesstexte, Illustrationen, Schaubilder, Tabellen und Diagramme. Diese Textformen seien viel abstrakter als früher und zuweilen schwer zu verstehen, sagt Hornung. Schüler und Schülerinnen müssten erst lernen, die verschiedenen Puzzleteile miteinander zu verbinden und so Komplexität zu erfassen.

Bei der Lektüre von Kants «Was ist Aufklärung?» zum Beispiel herrsche in den Klassen Verwirrung über den Begriff «privat». Kant spricht vom öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft, versteht unter dem Begriff «privat» jedoch etwas anderes als wir heute. Inhaber eines öffentlichen Amtes wie Offiziere oder Beamte machen nach Kant privaten, sprich: durch das Amt beschränkten Gebrauch der Vernunft, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Amtsträger sprechen. Als Gelehrte hingegen, wenn sie sich an ein Publikum wenden, machen sie davon öffentlichen Gebrauch, und nur dann dürfen sie auch fragen und in Frage stellen.

Den Schülern die ganze Breite der Textsorten und die poetologischen Möglichkeiten der Literatur zu vermitteln, ist eine Kunst, die über Kant zum Knittelvers bis zur Lektüre von «Faust II» reicht. Dabei geht es Hornung auch darum, dass die Schüler die deutsche Sprache in ihrer Eigenheit erfassen.

Von der Informatik lernen

Das Deutsche ist nicht linear und additiv wie das Englische, die Sätze können stark mit Informationen aufgeladen werden, nicht nur durch die Hypotaxe – die Unterordnung der Nebensätze unter die Hauptsätze – sondern durch Relativsätze, die zu Attributen gemacht werden. Ein Beispiel: Das Haus, das ich von meinem Grossvater geerbt habe, steht in Deutschland. Oder: Das von meinem Grossvater geerbte Haus, das ich früher nicht gesehen habe und ein ausgebautes Dach hat, steht in Deutschland. «Die deutsche Sprache hat die Eigenschaft, einem Text Raum zu verschaffen», sagt Hornung. «Es ist wichtig, das zu verstehen und damit zu arbeiten, weil Sprache und Denken sich gegenseitig beeinflussen.»

Um Schülerinnen und Schülern zu helfen, die Hauptaussagen komplexer Texte zu entschlüsseln, arbeitet Hornung sogar mit Methoden aus der Informatik, sprich: Nebensätze entfernen, hierarchische Strukturen schaffen, eine Hauptaussage isolieren oder einen Text in ein Schaubild umwandeln. All diese Bemühungen zielen darauf ab, «Zur eigenen Sprache zu finden». So lautet auch der Titel eines Buches von Hornung, das im Jahr 2010 eine Neuauflage erfuhr.

Die Schüler packen

Generell würden ihre Schüler gern an komplizierten Texten arbeiten, sagt Hornung. Um die vorhandene Motivation weiter zu stärken, achtet sie darauf, fördernd zu korrigieren. Schreibt eine Schülerin in einem Text: «Solche Sachen sind mir passiert», korrigiert Hornung nicht nur mit einem «A» für Ausdrucksfehler, sondern bietet Alternativen an: «Das kannst Du auch anders ausdrücken, zum Beispiel: Diese Abenteuer habe ich erlebt.»

Schule muss antizyklisch arbeiten

Angehenden Lehrerinnen und Lehrern rät Hornung, die Jugendlichen so zu unterrichten, dass sie sich möglichst viel vom Stoff selbst erarbeiten. «Der Lehrer ist der Coach! Jede Lehrperson, die fasziniert ist von ihrem Stoff, gibt etwas davon an die Schüler weiter.» Vor Komplexität dürfe man dabei nicht zurückschrecken, Easy-Reader seien nicht der richtige Weg für die Schule. Die Schule könne und müsse Gegensteuer zu gegenwärtigen Trends geben. Anstatt zu zappen, müsse die heutige Schülergeneration lernen, sich zu vertiefen.