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«Damnatio memoriae»

Versenkte Leichen

Die Geschichte wird stets von Siegern geschrieben, sagt der Volksmund. Und er hat Recht. Doch was passiert mit der Erinnerung der Verlierer? Am Historischen Seminar der Universität Zürich formierte sich kürzlich ein internationaler Arbeitskreis zur Erinnerungsforschung. Forschungsschwerpunkt sind «getilgte Erinnerungen».
Gerald Schwedler und Roland Gysin

«Damnatio memoriae. Deformation und Gegenkonstruktion von Erinnerung in Geschichte, Kunst und Literatur», heisst der interdisziplinäre Arbeitskreis, den die zwei Zürcher Mittelalterhistoriker Sebastian Scholz und Gerald Schwedler zusammen mit Kai-Michael Sprenger vom Deutschen Historischen Institut in Rom kürzlich an der Universität Zürich ins Leben gerufen haben.

Ausgelöschte Erinnerung: Buddha-Statuen in Bamyian, Afghanistan, vor (r.) und nach (l.) der Zerstörung durch die Taliban im März 2001.

Sebastian Scholz ist Professor für Frühmittelalter und Gerald Schwedler wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar. Die «Erinnerungsforschung» ist jedoch nicht nur für Mediävisten interessant. Geschichte wird epochenunabhängig überwiegend von Siegern geschrieben. Sie sind es, die bestimmen, was und wie erinnert wird, und was im schwarzen Loch des Vergessens verschwindet.

Ein Gegenmodell zur Geschichte

Scholz und Schwedler sind überzeugt, dass das Geschichtsbild und die Deutung tradierter Quellen entscheidend davon beeinflusst werden, ob und in welchem Ausmass es gelingt, Techniken der Deformation und der Gegenkonstruktion in der Überlieferung aufzudecken. Die gezielte Tilgung der Erinnerung betreffe dabei nicht nur rein physische Zerstörungen, sondern vor allem auch die Versuche, Wirken und Nachwirken bestimmter Personen oder Gruppen in Geschichtsschreibung, Kunst oder Literatur zu deformieren oder gar zu leugnen und somit gleichsam ein geschichtliches Gegenmodell zu etablieren.

Spuren derartiger, meist als Instrument des Machterhaltes eingesetzter Erinnerungsstrategien, lassen sich in unterschiedlichen politischen, kulturellen, künstlerischen und historiographischen Kontexten von der Antike bis zur Gegenwart feststellen.

Dabei kommt eine breite Palette an Techniken zum Einsatz: vom Verstümmeln von Statuen und Inschriften, über textkritisch schwer nachzuweisende Überformungen überlieferter Texte bis – ganz aktuell – hin zum Versenken einer Leiche im Meer mit dem Ziel «Osama Bin Laden keine Gedenkstätte zu schaffen», wie amerikanische Regierungskreise sagen.

Arbeitskreis «Damnatio Memoriae»: Kai-Michael Sprenger, Rom, Sebastian Scholz und Gerald Schwedler, beide Zürich (v.l.n.r.)

Ein Vorgehen, dass bereits im Alten Rom bekannt war, wie sich im Nachhinein aus dem Vortrag von Kai-Michael Sprenger an der Eröffnungsveranstaltung des Arbeitskreises im April 2011 heraushören lässt. Sprenger sprach über den «Tiber als Strom des Vergessens? Paradoxien eines römischen Erinnerungsortes». Und machte dabei an Fallbeispielen deutlich, dass gezielte Erinnerungsvernichtungen – geradezu paradoxerweise – eigene Erinnerungsmomente kreieren können, etwa wenn die Leichen politischer Gegner in rituellen Akten im Fluss versenkt und dadurch nur noch unter ganz spezifischen Vorzeichen erinnert werden.

Erinnerungsforschung als «Leitwissenschaft»

Die Fragen, denen sich der Arbeitskreis widmen möchte, sind vielfältig: Wie lässt sich historisch fassen, was bestimmte Gruppierungen und Entscheidungsträger der Überlieferungsbildung als nicht tradierungswürdig ansehen und zum Teil gar systematisch unterdrücken oder vernichten? Wie lassen sich derartige Phänomene der intentionalen Erinnerungsvernichtung und -deformation analysieren, wenn zumeist nur eine komplizierte und brüchige Quellenbasis zur Verfügung steht?

Angesichts der starken Präsenz der Forschungen zur Erinnerung im gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen Forschungsspektrum möchten die Historiker des Arbeitskreises künftig vermehrt die Gegenfolie der Erinnerung thematisieren. In einem internationalen Netzwerk sollen die Forschungen verschiedener Fachrichtungen gebündelt und in einem interdisziplinären Kontext als Beitrag zur Theoriedebatte der Erinnerungsforschung als «Leitwissenschaft der Kulturwissenschaften» diskutiert werden.