Hochaufgelöster Blick auf Krebszellen

Sara Félix sitzt neben einem grossen grauen Kasten vor einem Bildschirm. Auf dem Display erscheinen abstrakt aussehende Gebilde aus grünen Flecken. Eines ist jeweils kurz sichtbar, dann erscheint ein neues, ähnliches Bild. Mit einem Mausklick startet Postdoktorandin Félix die nächste Messung. Das wirkt alles nicht eben aufregend. Dabei geht es hier um Leben und Tod: Im grauen Kasten befindet sich ein vollautomatisiertes Fluoreszenzmikroskop, das in Tumorzellen Faktoren untersucht, die Krebserkrankungen aggressiver machen.
Am selben Mikroskop lassen sich Tumorzellen auch darauf untersuchen, wie sie auf Medikamente reagieren. Dafür nutzen Sara Félix und ihre Kollegen aus der Gruppe von Lucas Pelkmans, Professor für Systembiologie, Tumorgewebe von Patientinnen und Patienten. Im Labor versetzen sie die Zellproben mit einer Reihe von Farbstoff-Markiermolekülen. Diese heften sich an bestimmte Proteine. Im Fluoreszenzmikroskop wird dann sichtbar, in welchen Tumorzellen und wo darin sich die markierten Proteine ansammeln. Diese sind entweder entscheidend fürs Tumorwachstum oder zeigen an, um welche Art von Tumorzellen es sich handelt. Auch Krebsmedikamente – rund 50 auf einmal – lassen sich testen. So können die Forschenden nachverfolgen, ob und wie die Tumorzellen auf die Wirkstoffe reagieren. «Diese Informationen können helfen, die Therapie der Patienten an ihren spezifischen Tumor anzupassen», sagt Lucas Pelkmans.
Ins Innere von Zellen schauen
Der Systembiologe hat sein Labor auf dem Campus Irchel und ist auf mikroskopische Verfahren spezialisiert. «Indem wir beobachten, wie sich Zellen und Zellgruppen bei Krankheiten verändern, erhalten wir Hinweise darauf, wo wirksamere Behandlungen ansetzen müssen», sagt er. Krebs effizienter zu behandeln, ist auch das Ziel des Tumor Profiler Center, das Pelkmans mitbegründet hat. Im Center haben sich Forschungsgruppen der Universität Zürich, der ETH Zürich und des Universitätsspitals Basel zusammengeschlossen, um die biologische Bildgebung für die personalisierte Krebstherapie nutzbar zu machen.
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Indem wir beobachten, wie sich Zellen und Zellgruppen bei Krankheiten verändern, erhalten wir Hinweise darauf, wo wirksamere Behandlungen ansetzen müssen.
Schon seit dem Altertum haben Forschende Lebewesen beobachtet, um sie besser zu verstehen. «Über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg sind solche visuellen Beobachtungen sogar die wichtigste Quelle für Informationen über uns Menschen und unsere Umwelt», sagt Virginie Uhlmann, Leiterin des 2024 von der Universität Zürich und dem Basler Friedrich Miescher-Institut gegründeten BioVisionCenter auf dem Campus Irchel. Zu den ersten Bildern aus der Mikroskopie gehörten im frühen 17. Jahrhundert beispielsweise handgezeichnete Darstellungen von Insekten.
«Heute haben wir viel mehr Möglichkeiten», sagt Uhlmann. So erreichen moderne Lichtmikroskope eine Auflösung von Zehnteln Mikrometern, das sind Zehntausendstel Millimeter. Damit machen sie das Innere von lebenden Zellen sichtbar, etwa Organellen wie den Zellkern oder Mitochondrien oder Ansammlungen von Proteinen. Parallel zu den Geräten wurden auch die mikroskopischen Methoden immer ausgeklügelter. Mit der Lichtscheiben-Fluoreszenzmikroskopie etwa lässt sich die zeitliche Entwicklung grosser Gewebeproben verfolgen, indem dünne Schichten einzeln aufgezeichnet und dann zu einem detaillierten 3D-Bild rekonstruiert werden. «Gleichzeitig ist es schwieriger geworden, diese Fülle an Informationen aus den Bildern herauszuziehen», sagt Bioingenieurin Uhlmann. «Von blossem Auge kommt man nirgends mehr hin.»
Bildanalyse mittels KI
Darum nutzen Forschende Algorithmen, darunter auch immer häufiger KI, um Strukturen in den Bildern zu finden und auszuwerten. Die Expertinnen und Experten der biologischen Bildanalyse sprechen dabei von der «Computer Vision». Mit solchen Methoden lassen sich aus mikroskopischen Aufnahmen genaue Messungen gewinnen – etwa die Grösse von Zellen oder Zellorganellen oder Mengen bestimmter Proteine. Theoretisch können Forschende auf einem einzigen Bild Hunderte verschiedene Grössen messen, je nachdem, welche Frage sie beantworten möchten.
Doch weil verschiedene Methoden und Geräte zu unterschiedlich aussehenden Bildern führen, ist deren Auswertung selbst mittels KI alles andere als einfach. Und schliesslich seien die meisten Biologen nicht Experten in KI-gestützter Bildanalyse, sagt Uhlmann. «Deshalb braucht es eine Brücke zwischen der biologischen Mikroskopie und der Computer Vision.» Eine solche baut sie mit ihrem Team am BioVisionCenter.
«Wir arbeiten darauf hin, dass die Forschungscommunity künftig nicht für jeden Bildtyp und für jede Forschungsfrage einen neuen Weg finden muss», sagt Uhlmann. «Stattdessen entwickeln wir Dateiformate und Verarbeitungstools, die für alle Bilder funktionieren.» Auf ihrem Laptop öffnet sie eine Webplattform namens Fractal – an dieser arbeitet ihr Team auf Hochtouren. Über die Plattform will das Team des BioVisionCenter die computergestützte Biobildanalyse für alle zugänglich machen. Auf Fractal will es der Forschungscommunity Bausteine zur Verfügung stellen, die sich miteinander kombinieren lassen, um auf die jeweiligen Forschungsfragen angepasste Analysen durchzuführen. Mittels Programmierschnittstellen können zudem andere Entwickler ihre eigenen Analysetools in Fractal integrieren.
Eine noch präzisere Medizin
Die erste Version von Fractal stammt von Lucas Pelkmans, auch sein Team nutzt die nun weiterentwickelte Plattform, um Mikroskopiebilder zu analysieren. Die Forschenden haben entdeckt, dass Tumorzellen ganz unterschiedlich auf Krebsmedikamente reagieren: Abhängig vom Zustand der Zellen und den Verknüpfungen in ihrem komplexen Signalisierungsnetzwerk können bestimmte Wirkstoffe den Zellzyklus wie geplant blockieren – und die Tumorzellen so quasi auf Eis legen. Sind die Zellen aber in einem in anderen Signalisierungszustand, wirken wiederum andere Medikamente. «In bestimmten Zuständen kurbeln die Medikamente die Vermehrung der Zellen sogar an – das Gegenteil von dem, was man möchte», sagt Pelkmans. «Das hat direkte Auswirkungen auf die Therapie der Patienten.»
Bereits heute nutzt die personalisierte Medizin – oder genauer, Präzisionsmedizin – biologische Daten von Patientinnen und Patienten, um die Therapie möglichst individuell anzupassen. So zeigen in der Onkologie genetische Tests, durch welche Mutation der Krebs entstanden ist. Auf diese Weise lassen sich inzwischen etwa bei Hautkrebs, Brustkrebs oder Lungenkrebs rund zehn Tumor-Untergruppen unterscheiden und personalisiert behandeln.
Allerdings: Wie die Ergebnisse von Pelkmans’ Team und weiteren Forschenden aus der biologischen Bildgebung jüngst gezeigt haben, lässt sich der Therapieerfolg genauer vorhersagen, wenn bekannt und verstanden ist, wie der Zustand einer Zelle und deren molekulare Systeme auf Wirkstoffe reagieren. Ebendieser zelluläre Kontext lässt sich in den bildgebenden Methoden sichtbar machen. Und zwar über viele Grössenordnungen hinweg – von den Details im Inneren einer Zelle bis zum Blick auf viele miteinander interagierende Zellen eines Gewebes.
Einzigartige Tumoren
«Wenn man sich die zelluläre Zusammensetzung anschaut, ist jeder Tumor einzigartig – deshalb ist es auch so schwierig, Tumoren zu bekämpfen», bestätigt Bernd Bodenmiller, Professor für Quantitative Biomedizin und Co-Leiter des Tumor Profiler Center. Sein Team nutzt wiederum eine andere Methode, um sichtbar zu machen, was in Zellen vor sich geht. Im Labor auf dem Campus Irchel vermisst Masterstudent Jay Chang gerade Gewebe aus der Biopsieprobe eines Krebspatienten. Auch er sitzt vor einem Bildschirm neben einem grossen grauen Kasten. Darin befindet sich aber kein Mikroskop, sondern ein bildgebendes Massenzytometer. Dieses nutzt Massenspektrometrie, um mit Isotopen markierte Antikörper zu erkennen, die wiederum an bestimmte Proteine gebunden sind.
Bildgebend wird die Methode durch die Verknüpfung mit einem Laser – eine Entwicklung, bei der das Team Bodenmiller federführend war. Die Methode nutzt einen feinen Laser, um die vorbereitete Probe – meist eine dünne Schicht Tumorgewebe – loszulösen und ins Massenspektrometer zu bringen, und zwar in einem vorbestimmten zweidimensionalen Raster. So gelangen die Isotope dem Raster entlang in bestimmten zeitlichen Abständen ins Massenspektrometer. Und so wissen die Forschenden genau, wo sich die Isotopen-markierten Proteine befanden – in welcher Zelle, an welcher Organelle in der Zelle, gemeinsam oder getrennt von anderen Proteinen.
Da den Forschenden 50 Isotope zur Verfügung stehen, lassen sich mit dieser Methode bis zu 50 ausgesuchte Proteine verfolgen. Diese zeigen, welche unterschiedlichen Zellen es in einem Tumor gibt, was in den Zellen passiert und wie sie miteinander kommunizieren. «So erfahren wir immer mehr darüber, welche Mechanismen dazu führen, dass die Zellen eines Tumors sich unkontrolliert teilen», sagt Bodenmiller. Wieder andere Proteine geben Aufschluss über die Immunzellen im Tumor. «Diese sollten eigentlich Tumorzellen angreifen, werden von diesen aber manchmal mithilfe bestimmter Proteine abgeschaltet, was wir mit der bildgebenden Massenzytometrie erkennen.»
Hilfe für an Hautkrebs Erkrankte
Mit einer weiterentwickelten Methode, bei der die Antikörper nicht mit Isotopen, sondern mit bestimmten Peptiden markiert werden, hat Bodenmillers Team kürzlich gar über 120 Proteine auf einmal in Tumorgewebe sichtbar gemacht. «Bald werden wir noch mehr verfolgen können», sagt Bodenmiller. Denn je mehr Proteine man in Zellen sichtbar macht, desto klarer wird, was in Tumorzellen abläuft. Und desto genauer lassen sich daraus Therapievorschläge ableiten.
Im Tumor Profiler Center kommen all diese bildgebenden Ansätze für die Präzisionsmedizin zusammen. Und sie haben auch schon Menschen geholfen – in einer ersten klinischen Studie mit Hautkrebspatientinnen und -patienten, bei denen die Standarddiagnostik und -therapien nicht mehr funktionierten. Bei ihnen lieferte die biologische Bildgebung Informationen für weitere, zielgerichtete Therapien. Mit Erfolg: Laut den ersten Resultaten überlebten die so behandelten Patientinnen und Patienten länger, verglichen mit anderen, über die keine Daten aus der Bildgebung verfügbar waren. Manche waren auch nach zwei Jahren noch am Leben, was sonst bei derart fortgeschrittenem Hautkrebs kaum vorkommt.
Schneller und kostengünstiger werden
«Wir wissen also, dass die biologische Bildgebung die Therapie tatsächlich verbessert», sagt Lucas Pelkmans. Noch braucht es aber umfangreichere klinische Studien, damit diese Ansätze künftig mehr Menschen zugutekommen. Zudem müssen einige der Methoden für die klinische Praxis noch etwas schneller und kostengünstiger werden. Bereits wurden aus den involvierten Forschungsgruppen Spin-off-Firmen gegründet, die sich dies zur Aufgabe gemacht haben. Klar ist, wie Pelkmans unterstreicht: «Mit der biologischen Bildgebung haben wir das Potenzial, die Medizin nochmals deutlich zielgerichteter und personalisierter zu machen.»