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Healthy Longevity

«Warren Buffet gehört nicht zum alten Eisen»

Wir sollten Älteren mehr Gelegenheiten bieten, sich zu engagieren, sagen Harald Gall und Mike Martin. Im Interview sprechen der Informatiker und der Psychologe über gesunde Langlebigkeit, ein differenzierteres Altersbild und Dinge, die Menschen wichtig sind.
Roger Nickl/Thomas Gull
Menschen können auch im Alter noch ganz wesentliche Leistungen erbringen. Dies zu ermöglichen und zu fördern, ist deshalb ganz zentral. (Im Bild: Barbara König, Emeritierte Professorin für Verhaltensbiologie an der UZH, Bild: Jos Schmid)

Harald Gall, Mike Martin, Sie beide sind Teil des Healthy Longevity Center an der UZH. Sie, Herr Martin, leiten als Co-Direktor zudem den Universitären Forschungsschwerpunkt «Dynamik Gesunden Alterns». Was bedeutet es heute, gesund zu altern?

Mike Martin: Das hängt davon ab, wie man Gesundheit definiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den Zeitraum zwischen 2020 und 2030 zur Dekade des gesunden Alterns erklärt und den Begriff Gesundheit neu gefasst: Gesund ist demnach eine Person, wenn sie in der Lage ist, Dinge zu tun, die für sie Wert haben, getan zu werden.

Und wie stehen die Chancen dafür, dass Menschen diese für sie wertvollen Dinge tun können?

Martin:  Die Chance, Dinge zu tun, die man wertschätzt, hängt einerseits von den Fähigkeiten einer Person, andererseits von den Gelegenheiten ab, die es in der Umgebung für sie gibt. Wenn ich keine Gelegenheiten habe, mich mit 75 noch zu bilden, ist damit auch meine Gesundheit gefährdet, weil die Möglichkeit, sich im Alter zu bilden, Teil der Definition ist. Es ist eine weltweite Herausforderung, Menschen möglichst viele Gelegenheiten zu bieten, um vielfältigen, für sie bedeutsamen Aktivitäten nachzugehen. Sicherlich sind die Voraussetzungen dafür in verschiedenen Ländern auch aus finanziellen und ökonomischen Gründen unterschiedlich.

Weshalb lenkt die WHO in ihrer neuen Begriffsdefinition die Wahrnehmung auf die persönliche Wertschätzung?

Martin: Die heute gängige Definition von Gesundheit besagt, dass gesund ist, wer nicht krank ist – darauf ist unser Gesundheitswesen gebaut. Eigentlich haben wir mehr eine Art «Krankheitswesen». Es geht darum, einzelne Erkrankungen zu erkennen und zu behandeln. Und wenn jemand nicht krank ist, dann ist er oder sie eben gesund. Nun gibt es aber immer mehr Menschen, die sehr alt werden und an einer Vielzahl von Erkrankungen leiden, aber gleichzeitig sehr aktiv sind. Sie führen erfolgreich Geschäfte, brechen sportliche Weltrekorde in ihren Altersklassen. Von der Leistungsfähigkeit her betrachtet müsste man sagen, sind sie gesund, von der diagnostischen Seite her sind sie krank.

Was bedeutet das: Müssen wir mit Blick auf das Alter differenzierter denken?

Harald Gall: Ich denke schon, es geht ja auch darum, wie wir einer alternden Person Wertschätzung entgegenbringen. Es gibt diesen interessanten Begriff des «Ageism» – er bedient die stereotype Vorstellung, wer alt ist, gehöre zum alten Eisen und sei nicht mehr wirklich zu gebrauchen. Wir sehen dagegen immer mehr, dass Menschen auch im Alter noch ganz wesentliche Leistungen erbringen können. Das zu ermöglichen und zu fördern, ist deshalb ganz zentral.

Mike Martin

Menschen über 60 können sehr viel machen – für sich selbst, für die Gesellschaft, für die anderen.

Mike Martin
Gerontopsychologe

Was sind denn solche Gelegenheiten, können Sie dazu ein Beispiel geben?

Gall: Heute müssen wir ab einem bestimmten Alter in Pension gehen, unabhängig davon, was wir noch leisten können. Nach der Pensionierung wird dann dafür gesorgt, dass wir altersgerecht wohnen können, und es wird vielleicht eine tolle Laufstrecke für den Rollator gebaut. Aber das ist eine falsche Wahrnehmung des Alters. Mit ihr verringern sich auch die Gelegenheiten, sich zu engagieren. Dafür gibt es klare Belege aus der Forschung. In dem Moment, wo man eine Altersgrenze festlegt, egal, wo diese ist, lohnt sich die Investition etwa in eine berufsbezogene Weiterbildung umso weniger, je näher man an diesen Punkt rückt. Damit werden beispielsweise Gelegenheiten für (Weiter-)Bildung oder weiteres berufliches Engagement geschmälert.

Wie sehen Sie das, Herr Martin?

Martin: Ich möchte dazu etwas aus der Perspektive der Forschung ergänzen: Forschung war bislang sehr kreativ darin, zu erkennen, welche gesundheitlichen Probleme Menschen im Alter haben oder haben werden. Zurzeit werden 90 Prozent aller Forschungs- und Innovationsarbeit auf 10 Prozent aller Altersphänomene verwendet. In unserer Forschung machen wir es umgekehrt und fokussieren auf diese 90 Prozent. Wir fragen uns, was denn jenseits von Krankheitsthemen die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten von älteren Menschen sind. Bisher hat die Alters- und Gesundheitsforschung danach gefragt, was über 65-Jährigen gemeinsam ist. Da kommt man gemittelt schnell auf bestimmte Krankheitsrisiken. Uns interessiert dagegen nicht der Durchschnitt aller, sondern die Diversität oder Heterogenität von Altersphänomenen. Dazu fehlten bislang die Daten. Der Universitäre Forschungsschwerpunkt «Dynamik Gesunden Alterns» hat in den letzten Jahren eine Datengrundlage geschaffen, um die Unterschiedlichkeit dessen, was Altern ausmacht, weiter zu erforschen.

Gall: Die gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen bezüglich Alter sind sehr eingeschränkt. Das macht allein schon ein Blick auf die Werbung deutlich. Geht es um die Zeit nach der Pensionierung, werden Bilder bemüht, die beispielsweise Leute beim Kaffeetrinken am Pool zeigen. Man hat Zeit und kann es sich leisten, mal in Ruhe zu geniessen. Sieht so das Alter aus? Vielleicht auch. Aber jenseits der Werbewelt gibt es auch Menschen wie etwa Warren Buffet. Der ist mit 92 Jahren noch immer ein sehr erfolgreicher, erfahrener Investor. Von ihm würde wohl niemand sagen, er gehöre zum alten Eisen. Andere machen Sport bis ins hohe Alter oder engagieren sich für die Gesellschaft. Ich wünsche mir künftig Bilder in der Werbung, die Menschen unterschiedlichen Alters zeigen, alle bei der gleichen Sache. Die etwas tun, weil es für sie wertvoll ist. Ob sie älter oder jünger sind, spielt dabei keine Rolle.

Heute ist es die Regel, dass wir in einem bestimmten Alter pensioniert werden. Wird das einheitliche Pensionsalter angesichts der immer älter werdenden Gesellschaft obsolet?

Gall: Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz liegt heute zwischen 81 und 85 Jahren.  Das heisst, das Thema Arbeit ist mit 65 tatsächlich nicht erledigt, sondern ein Lebensthema. Das kann Community-Arbeit oder philanthropische Arbeit, aber auch die Betreuung von (Enkel-)Kindern oder die Gründung eines Unternehmens sein. Alle diese Tätigkeiten haben einen persönlichen, aber auch einen gesellschaftlichen Wert. Diese sollten wir besser unterstützen – aus ökonomischer, aber auch aus IT-Perspektive. Wir sollten anders und vielfältiger über das Alter nachdenken und mehr Gelegenheiten bieten, um sich lange engagieren zu können.

Harald Gall

Wir sollten anders und vielfältiger über das Alter nachdenken.

Harald Gall
Informatiker

Martin: Was ich durch die Zusammenarbeit mit Harald Gall gelernt habe: Der gesellschaftliche Wert dieser Arbeit wird ökonomisch kaum bemessen. Das sollte sich ändern. Wenn klar wird, wie gross der Beitrag älterer Menschen etwa zur Erhaltung der Gesellschaft oder zur Pflege der Nachbarschaft ist, könnte auch ein anderer Blick auf das Alter entstehen, der nicht mehr allein auf die Krankheitskosten gerichtet ist. Wir sollten versuchen, die Vorteile einer alternden Gesellschaft besser zu nutzen. Nimmt man eine andere Perspektive ein, sieht man plötzlich ein riesiges Potenzial: Menschen über 60 können sehr viel machen – für sich selbst, für die Gesellschaft, für die anderen.

Wie könnte sich dieses Potenzial älterer Menschen besser entfalten? 

Martin: Wichtig ist zuerst einmal, dass die Diversität von Altersphänomenen sich als Forschungsgegenstand etabliert. Wenn ich heute bei einer Suchmaschine im Themenfeld «80+» recherchiere, erhalte ich vor allem Informationen zu Krankheiten und Gesundheitskosten. Wenn ich ein Jugendalter eingebe, geht es um Bedürfnisse, Ziele, Dienstleistungen und vielleicht auch noch Infos zu Mental-Health-Problemen. Das bedeutet, die Daten, auf die wir auch als Forschende und Medienleute zurückgreifen, lenken uns jedes Mal wieder darauf, das alt sein anscheinend vor allem krank sein heisst. Zunehmend wird erkannt, dass solche verzerrten Daten verschleiern, dass ältere Menschen beispielsweise Zehntausende von Stunden an informeller Bildungsaktivität leisten. Wenn ich das weiss, komme ich doch in meiner weiteren Forschung oder wenn es um die Entwicklung von Innovationen und Dienstleistungen geht, auf ganz andere Ideen.

Sie haben gesagt, unser Gesundheitssystem sei vor allem ein Krankheitssystem. Was müsste sich denn ändern?

Martin: Gemäss dem Healthy-Ageing-Modell der WHO sollten wir unser öffentliches Gesundheitswesen künftig statt als Volume-based als Value-based-Health-System aufbauen. Das heisst, Dienstleister bekommen dann Geld, wenn sie es nachweislich geschafft haben, dass eine Person wieder oder mehr tun kann, was sie wertschätzt. Das ist etwas ganz anderes als das bisherige Modell, das rund um Krankheitssymptome gebaut ist. Geld wird hier verdient, wenn eine Erkrankung diagnostiziert oder behandelt wird; das wird auch als Volume-based bezeichnet. Hinzu kommt: Heute verlangt der Gesetzgeber für die Zulassung von bestimmten Interventionen eine ganz bestimmte Art von Forschung – zum Beispiel Gruppenvergleiche. Eine solche Forschung arbeitet auch strukturell gegen die Wahrnehmung individueller Unterschiede, die es innerhalb dieser Gruppe gibt. Deshalb ist es wichtig, dass die Forschung Interventionen und ihre Auswirkungen unter realen Bedingungen und individuell im Alltag untersucht und nicht nur im Labor.

Wie wollen Sie diese Diversität im Alltag denn messen?

Martin: Dafür braucht es neue Messinstrumente, die objektiv und genau feststellen, ob diese Werte erreicht werden. Sie sollen in den nächsten Jahren entwickelt werden. Dafür unterstützen wir die WHO als Collaborating Center Coordinator. In dieser Funktion fördern wir den Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen Zentren weltweit, damit solche Tools schnell und weltweit verfügbar werden. Wir bauen sozusagen die Instrumente für das Gesundheitswesen der nahen Zukunft.

Gall: Die digitale Technologie, die uns heute zur Verfügung steht, spielt eine wichtige Rolle. Sie ermöglicht es, ganz unterschiedliche Aktivitäten – etwa Bewegungs-, Fitness- und Ernährungsdaten, aber auch finanzielle Transaktionen und soziale Engagements – aufzuzeichnen und auszuwerten. Wir versuchen nun in unserer Forschung, die verschiedenen Aktivitäten, denen eine Person nachgeht, über die Daten stärker zu integrieren und analysierbar zu gestalten. Was macht jemand typischerweise in einer Woche oder in einem Monat? Solche Aktivitäten versucht man durch Apps oder Sensoren diverser Art heute schon abzubilden. Künftig sollte man aber vermehrt Förderaspekte integrieren, etwa indem man das Erreichen von Zielen mit einer Belohnung verknüpft und damit eine Art digitalen Begleiter schafft, alles in einem datengeschützten Rahmen. Und wir müssen die Wirkung solcher Anwendungen auch untersuchen können. Innovation ist deshalb beim Fördern, aber auch beim Messen gefragt.

Wir haben darüber gesprochen, wie ein differenzierteres und diverseres Bild des Alters die Gesellschaft und das Gesundheitssystem verändern könnte. Wie stellen Sie sich künftig gesundes Altern vor?

Gall: Wenn wir digitale Technologien nutzen und sie erweitern, indem wir neue Datenquellen erschliessen und verknüpfen, können wir künftig ältere Menschen individueller unterstützen. Das Ziel wäre, ein ganzheitlicheres Bild zu zeichnen und zu zeigen, wie jemand im Leben unterwegs ist und welche Chancen sich ihm oder ihr bieten. Wenn es uns gelingt, ein diverseres Altersbild zu etablieren und mehr Möglichkeiten zu schaffen, sich auch im Alter weiterzuentwickeln und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, wird damit auch die Zufriedenheit steigen. Auch deshalb, weil dann die Pension nicht mehr das Tor ist, das man passiert, um danach zum alten Eisen zu gehören. Älter werden wir aber trotzdem, und damit verändern sich auch die Interessen und zunehmend der Bewegungsradius. Technologie kann helfen, diese Veränderungen positiv zu unterstützen – sie kann zur Zufriedenheit und vielleicht sogar zum Glücklichsein beitragen.

Martin: Aus meiner Sicht wäre es ein grosser Gewinn, wenn wir in der Wissenschaft die 90 Prozent, die wir punkto Altern und Langlebigkeit bisher gar nicht untersucht haben, in den Blick nehmen würden. Da sehe ich das grosse Potenzial. Wenn wir künftig individuelle Interventionen massschneidern wollen, müssen wir sinnvollerweise nicht nur die Eigenschaften einer Person, sondern vor allem den Kontext, in dem sie Unterstützung braucht, kennen. Das heisst, dass man im Wettbewerb um gute Interventionen dann gewinnt, wenn man Informationen über alles andere als die Erkrankung einer Person hat. Denn wenn jemand Unterstützung braucht, weiss man ja schon, woran er oder sie leidet. Wichtig ist dann aber vor allem die individuelle Kontextinformation, also etwa welche Ziele jemand hat, was jemand wertschätzt und über welches soziale Netzwerk er oder sie verfügt. Erst dann ist eine individuelle und situativ angepasste Unterstützung möglich, die darauf abzielt, jemandem zu ermöglichen, was ihm oder ihr wichtig ist. Dadurch, dass wir immer mehr individuelle Informationen über älter werdende Menschen haben, wird wohl – quasi als Nebeneffekt – auch unser Altersbild vielfältiger und differenzierter.