«Manchen war er unheimlich»

Herr Theisohn, warum ist Conrad Ferdinand Meyer ein Autor, den man auch heute noch kennen sollte?
Philipp Theisohn: Meyer ist der erste moderne deutschsprachige Dichter. Im europäischen Kontext kann man ihn an die Seite von Stéphane Mallarmé oder Charles Baudelaire stellen. Die Symbolisten Stefan George und Hugo von Hofmannsthal urteilten, Meyer sei der einzige deutschsprachige Lyriker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den man gelten lassen könne.
Meyer gehört neben Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller zu den drei grossen Figuren der Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts, ist aber deutlich unbekannter als die beiden anderen. Was ist der Grund dafür?
Meyer ist weniger zugänglich, das gilt sowohl für sein Werk als auch für seine Person. Im Gegensatz zum rührigen Emmentaler Pfarrer Gotthelf und dem knorrigen Staatsschreiber und Wirtshausgänger Keller war der materiell weich gebettete, aber psychisch labile Patriziersohn Meyer alles andere als ein volksnaher Typ. In seiner Jugend wurde er abgeschirmt, und auch später lebte er zurückgezogen. Vielen galt er als abgehoben und manchen war er etwas unheimlich. Auch in den Jahren seines Ruhms, in denen er als Nationaldichter glänzte, blieb er vielen Leuten suspekt, ganz besonders in seiner Heimatstadt Zürich.
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In Meyers Novellen und Gedichten sind die lebendigen Bezüge zwischen Ich und Welt gekappt, die Wirklichkeit erscheint als abgespalten und abgründig.
Meyer fremdelte mit seiner eigenen Zeit und beschäftigte sich literarisch mit weit zurückliegenden Epochen. Warum ist er trotzdem der modernere Autor als sein Zeitgenosse Gottfried Keller?
Keller ist in seiner Praxis – sieht man vielleicht einmal vom Roman «Martin Salander» ab – noch ganz Realist. Er glaubt durchaus noch an die Erfahrung als Grundlage literarischen Schaffens, an das empfindende Subjekt als Kern der Dichtung. Daran glaubte Meyer nicht mehr, und eben daraus resultiert seine Modernität. In Meyers Novellen und Gedichten sind die lebendigen Bezüge zwischen Ich und Welt gekappt, die Wirklichkeit erscheint als abgespalten und abgründig.
Keller bezeichnete Meyer als Manieristen und seine Gedichte als «künstliche Blumen». Hatte er recht?
Das war nicht derart abschätzig gemeint, wie es vielleicht klingt. Keller anerkannte bei allen Vorbehalten Meyers künstlerische Meisterschaft und ahnte, dass dieser auf seinen Abwegen eine ästhetische Position erreicht hatte, die ihm selbst und den meisten anderen noch verschlossen war.
Was hat es mit der Künstlichkeit von Meyers Texten auf sich? Wieviel Kalkül steckt dahinter?
Meyer strebt sehr bewusst eine dichterische Form an, in denen die Spuren eines schauenden Ichs eliminiert sind. Die Fenster zur Welt werden geschlossen und die Illusion eines natürlichen, unmittelbaren Beobachtens wird abgetötet. Übrig bleibt das Gedicht selbst, das sich in einsamer Pracht als Geformtes, Gemachtes, Erschriebenes in Szene setzt. Wie hartnäckig Meyer diese Idee künstlerischer Reinheit verfolgte, zeigt sein vielleicht berühmtestes Gedicht, «Der römische Brunnen»:
Der römische Brunnen
Aufsteigt der Strahl und fallend giesst
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfliesst
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Alles, was dieses Gedicht über den Springbrunnen mitteilt, geht in die sprachliche Form ein. Das Aufsteigen des Wasserstrahls wird metrisch in den zwei Anfangshebungen des ersten Verses spürbar, bevor die zweite Vershälfte jambisch fällt, und dieses Fallen anhält bis ans Ende des Gedichts. Klanglich nimmt das Wechselspiel der bestimmenden Laute «u» und »ie» den Gegensatz von Ruhen und Strömen auf.
Früheren Fassungen des Gedichts haften noch Elemente äusserer Beschreibung an, erst in der siebten und letzten Fassung von 1882 ist der erwünschte Grad dichterischer Läuterung erreicht. Es dauerte 22 Jahre, bis Meyer alle Elemente subjektiven Erlebens weggemeisselt hatte.
Meyer war nicht nur Lyriker, sondern schrieb auch Prosa. Seine Novellen – darunter «Jürg Jenatsch», «Gustav Adolfs Page» oder «Die Versuchung des Pescara» – spielen ausnahmslos in längst vergangenen Zeiten. Warum diese Vorliebe fürs Historische?
Meyer brauchte die Distanz zu seinen literarischen Motiven. Er suchte das Heroische, den dramatischen Zusammenprall der Gegensätze und die wuchtigen Bilder, hinter denen er sich als Autor wie in einer Kulisse verbergen konnte. Er bewunderte zwar, wie Keller im Roman «Martin Salander» den wild gewordenen Kapitalismus der damaligen Gegenwart beschrieb, vermied es aber selbst, über zeitgenössische Stoffe zu schreiben, denn das hätte von ihm verlangt, als unmittelbarer Beobachter hervorzutreten. Die Gegenwart reizte ihn schon, aber sobald er es länger mit ihr aushalten musste, erschien sie ihm »zu roh und zu nahe«, wie er es in einem Brief an die Schriftstellerin Louise von François einmal ausdrückte.
Meyer bedient den Glauben an die Historie nur, um ihn sogleich zu untergraben.
Meyer misstraute allem Selbstgeschauten in der Literatur und verlegte sich deshalb auf die effektvolle literarische Inszenierung angelesener historischer Stoffe. Damit traf er exakt den Geschmack seiner Zeit, die inbrünstig an Geschichte als Quell wahrer Bedeutsamkeit glaubte oder glauben wollte. Wobei Meyer diesen Glauben an die Historie nur bedient, um ihn dann sogleich zu untergraben, indem er jegliche höhere Bedeutung als eine von aussen an die Vergangenheit herangetragene Konstruktion kenntlich macht. Zwischen den Ritzen hindurch blickt man ins Bodenlose, und das macht die Modernität dieser historisch kostümierten Novellen aus.
Meyer war die längste Zeit seines Lebens ein Schriftsteller ohne Werk. Sein Durchbruch kam im Alter von 46 Jahren mit dem Gedichtzyklus«Huttens letzte Tage».
Dieses Versepos war sein erstes grösseres Werk. Es spielt zur Reformationszeit am Zürichsee. Es erschien wenige Monate nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs. Viele lasen es als Gleichnis zu diesem historischen Grossereignis, und so kam Meyer zu internationalem, vor allem aber zu deutschnationalem Ruhm.
War dieser Erfolg vorgezeichnet?
Nein, überhaupt nicht. Mit 27 Jahren kam Meyer wegen seiner schweren Depressionen – die wohl auch bereits psychotische Aspekte aufwiesen – in die Nervenheilanstalt Préfargier bei Neuenburg und galt danach als nicht vorzeigbar in der Öffentlichkeit. Jahrelang waren er selbst und seine Schwester Betsy die einzigen, die an seine dichterische Berufung glaubten.
Wie ging Meyer mit seinem späten Erfolg um?
Er schlüpfte erstaunlich mühelos in die Rolle des gefeierten Grossschriftstellers. Seine grossbürgerliche Herkunft, die Millionenmitgift seiner Frau und sein stattliches Haus in Kilchberg boten dafür die geeignete Staffage. Und der Ruhm beflügelte ihn. Beginnend mit dem «Amulett» 1873 schrieb er in hoher Kadenz eine erfolgreiche Novelle nach der andern. 1880 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Zürich. Gegen Ende der 1880er Jahre begannen ihm seine psychischen Leiden wieder stark zuzusetzen, 1892 wurde er erneut in eine Nervenklinik, diesmal die in Königsfelden, eingeliefert. Damit schloss sich ein Kreis.
Meyer verstand sich zeitlebens als Rollen- und Maskenträger und gab wenig von sich Preis.
Wie greifbar ist für Sie Conrad Ferdinand Meyer als Person?
Meyer ist als Mensch schwer greifbar und sein Leben ist erstaunlich lückenhaft dokumentiert, obwohl es an beflissenen Beobachtern seiner Person nicht fehlte. Er selbst verstand sich zeitlebens als Rollen- und Maskenträger und gab wenig von sich Preis. Umso eifriger wurde er von seinem Umfeld beobachtet und interpretiert. Das begann schon in früher Jugend mit einer Flut an Tagebucheinträgen und Briefen seiner besorgten und von Schuldkomplexen beladenen Mutter, und es setzte sich fort in Gutachten, Zeugnissen, Diagnosen und Deutungen von Verwandten, Vertrauten, Ärzten und Literaten.
Was all diese Meyer-Interpreten umtrieb, war die mit dem Attribut des «Dämonischen» behaftete Verbindung von Nervenkrankheit und Künstlertum – ein Komplex, der auch reichlich Anlass zum Verschweigen, Vernebeln und Verstellen gab. Die Deutungen und Vertuschungen verdunkeln den Blick auf Meyer als Person, verraten aber viel über die Denkmuster der damaligen Zeit.
Auch Sigmund Freud beschäftigte sich mit Meyer.
Freud war ein begeisterter Meyer-Leser. Die Lektüre fiel in eine Phase, in der viele von Freuds theoretischen Schlüsselideen entstanden. Genau genommen wurde so etwas wie Psychoanalyse durch die Auseinandersetzung mit dem Autor Meyer überhaupt erst denkbar. Freuds biografische Deutung der Novelle «Die Richterin» wurde nicht von ungefähr schulbildend für die psychoanalytische Literaturbetrachtung.
Viel interessanter, als hinter die Maske zu schauen, fand ich die Maske selbst – das Bild des Autors C.F. Meyer.
Wie schreibt man eine Biografie über einen Autor, dessen Bild derart von Maskierung und Verstellung geprägt ist?
Ich wollte den Menschen und sein Werk nicht ein weiteres Mal psychologisch erklären. Viel interessanter, als hinter die Maske zu schauen, fand ich die Maske selbst – das Bild des Autors C.F. Meyer. Ich wollte wissen, wie und von wem diese Maske geformt wurde und wie und wozu sie eingesetzt wurde. Nebst Meyer selbst waren daran in erster Linie seine Schwester Betsy Meyer, sein Verleger Hermann Haessel und der Germanist Adolf Frey beteiligt – in zweiter und dritter Linie aber viele andere mehr.
Letztlich hat das ganze 19. Jahrhundert mit seinen Antrieben und Ängsten das Bild von C.F. Meyer geprägt. Wie genau ging das vor sich? Das war die Frage, von der ich mich in meiner Biografie habe leiten lassen.