Wie die Klimaerwärmung den Bergsturz von Blatten beeinflusste

Damit es zu einem Bergsturz kommt, muss eine ganze Reihe von Faktoren ineinandergreifen. In Blatten stürzten grosse Gesteinsmassen vom Kleinen Nesthorn auf den darunter liegenden Birchgletscher. Dieser vermochte die zusätzliche Last nicht zu tragen und brach ab. Geröll und Eis stürzten ins Tal und stauten den Fluss Lonza zu einem kleinen See. Ein Teil des Dorfes Blatten wurde von Schutt verschüttet, ein anderer überschwemmt.
Dass ein ganzer Gletscher abbricht, ist ein seltenes Ereignis, wie Christian Huggel erklärt. Der UZH-Glaziologe ist Experte im Bereich der Climate Change Attribution, also der Zuordnung von Ereignissen zu Faktoren des Klimawandels, und ist einer der Autoren der entsprechenden Kapitel im letzten und vorletzten Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC.
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Ohne die Erwärmung durch den Klimawandel wäre der Bergsturz am Kleinen Nesthorn nicht oder erst Jahrhunderte später geschehen.
«Der Klimawandel hat eine wichtige Rolle gespielt beim Nesthorn», ist Huggel überzeugt. «Natürlich ist bei einem solchen Ereignis die Geologie, insbesondere die Schichtung und die Beschaffenheit des Gesteins, der grundlegende Faktor», stellt er klar. Doch ohne die Erwärmung durch den Klimawandel wäre laut Huggel der Bergsturz am Kleinen Nesthorn nicht oder erst Jahrhunderte später geschehen.
Instabilität steigt
Entscheidend sind laut Huggel drei Faktoren, die nachweislich mit der Temperaturerwärmung zusammenhängen und zum Ereignis in Blatten beigetragen haben: der abschmelzende Birchgletscher, Erwärmung des Permafrosts im Fels und die abnehmende Bedeckung der Berge mit Schnee, Firn und Eis im Sommer.
Gletscher drücken mit ihrem Gewicht auf die Berghänge und üben damit eine stabilisierende Wirkung aus. Schmelzen die Gletscher ab, so fällt dieser Gegendruck auf den Berghang weg. Der Hang wird instabiler und es kann zu Rutschungen oder Stürzen kommen.


Aufnahme des Kleinen Nesthorns und des Birchgletschers 2022 (linke Seite) und September 1980 (rechte Seite). Deutlich ist der Rückgang der Schneebedeckung zu erkennen. (Bilder: Swisstopo)
Das Kleine Nesthorn liegt zudem in einer Permafrostzone. Modellierungen des UZH-Glaziologen Wilfried Häberli haben gezeigt, dass sich die Temperaturerwärmung an der Oberfläche auch in die Tiefe fortsetzt. Dies führt zum Beispiel dazu, dass Eis in den Felsklüften auftaut oder mehr Schmelzwasser in die Felsen eindringt. Gefriert es im Winter oder in der Nacht wieder, so kann das die Felsen sprengen und destabilisieren.
«Wir können beim Kleinen Nesthorn nicht ganz genau sagen, welche Prozesse im Felsinnern ablaufen, da diese sehr komplex sind», sagt Huggel. Unbestritten sei jedoch, dass das Auftauen des Permafrosts die Stabilität der Felsen zusätzlich schwächt.
Fehlende Schnee- und Eisdecke
Weiter waren früher die Wände des Nesthorns viel stärker und länger mit Schnee und Firn bedeckt als heute. Luftaufnahmen aus den 1980er-Jahren und heute zeigen im Vergleich, dass im Sommer kaum mehr Eis und Schnee zu finden ist. «Fehlt diese Bedeckung, kann die Wärme noch stärker in den Fels eindringen und die Felsoberfläche beginnt zu bröckeln», erklärt Huggel.
Alle drei Faktoren – die Druckentlastung durch den Gletscherrückgang, die Erwärmung des Bodens und der Rückgang der Abdeckung mit Schnee und Firn – liessen sich am Kleinen Nesthorn und am Birchgletscher beobachten. Zusammen trugen sie dazu bei, dass die Felsstürze am Kleinen Nesthorn innerhalb kurzer Zeit sehr viel Fels und Geröll auf den Gletscher stürzte, was letztlich zum vollständigen Abbruch führte.
Seltenes Ereignis
Für Aufsehen sorgte im Jahr 2002 der Kollaps des Kolka-Gletschers im Kaukasus, bei dem über hundert Menschen von einer Lawine aus Geröll und Eis verschüttet wurden. Damals habe man das für ein einmaliges Ereignis gehalten, so Huggel. Doch seither waren weltweit einige weitere Fälle zu beobachten, die wissenschaftlich analysiert wurden.
«Dadurch verstehen wir die Prozesse, die zu einem Abbruch führen», erklärt Huggel. In den Alpen wurde bislang noch nie ein Gletscherkollaps von solchen Dimensionen beobachtet. Für viele Leute war dies deshalb bis zur Katastrophe in Blatten undenkbar.
Klimawandel ernst nehmen
Auch wenn nun in den kommenden Jahren nicht damit zu rechnen ist, dass in den Alpen in kurzen Abständen Ereignisse von vergleichbarem Ausmass auftreten, so ist es für Huggel dennoch wichtig, dass der Zusammenhang mit der Klimaerwärmung ernst genommen wird. «Einige Stimmen tendieren dazu, den Bergsturz als ein seltenes Ereignis zu sehen, das aber keinen direkten Zusammenhang mit dem Klimawandel hat.»
Doch seit den 1980-er Jahren ist in der Schweiz ein markanter Temperaturanstieg zu verzeichnen. «Er ist doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt», erklärt Huggel. Entgegen einer oft noch verbreiteten Wahrnehmung sei die Schweiz deshalb durchaus stark vom Klimawandel betroffen. Als Wissenschaftler kann Huggel die Folgen der Erwärmung aufzeigen und Gesellschaft und Politik dabei unterstützen, sich an den Klimawandel anzupassen.