Bergstürze und starker Regen
Der Fels kam am frühen Morgen ins Rutschen: Rund fünfeinhalb Millionen Kubikmeter Gestein lösten sich von der Bergflanke und stürzten auf den Gletscher. Dabei rissen sie einen Teil des Gletschereises mit und ergossen sich in das darunterliegende Tal. Der Schuttkegel aus Eis und Geröll zog sich am Ende über mehr als fünf Kilometer hin.
Der hier beschriebene Bergsturz entspricht in vielen Teilen demjenigen von Blatten, der im Mai 2025 das Dorf im Walliser Lötschental weitgehend unter sich begrub. Er ereignete sich jedoch gut ein Jahr früher im April 2024 am Piz Scerscen oberhalb von Pontresina im Bündnerland. Gemäss einer Auswertung des Eidgenössischen Instituts für Wald, Schnee und Landschaft WSL war es vom Gesteinsvolumen her der grösste Bergsturz in der Schweiz seit 1991, als bei Randa im Wallis in mehreren Wellen insgesamt 30 Millionen Kubikmeter Fels ins Tal stürzten. Dennoch erreichte er wenig mediale Aufmerksamkeit. Denn das Sturzgebiet war nicht besiedelt, weder Menschen noch Infrastruktur kamen zu Schaden.
Unerwarteter Felssturz
«Der Felssturz am Piz Scerscen kam unerwartet», sagt Holger Frey, Geograf und Experte für Naturgefahren in alpinen Regionen. «Es gab keine Warnungen.» Obwohl das Gebiet abgelegen im hinteren Val Roseg liegt, war es aber grosses Glück, dass keine Menschen zu Schaden kamen. Denn durch das Bergsturzgebiet führen beliebte Routen für Wanderer und Skitourengänger. Dass zum Zeitpunkt des Bergsturzes bei gutem Wetter niemand unterwegs war, war reiner Zufall.
Hier ein Bergsturz, der für alle völlig überraschend kam und glücklicherweise kein Menschenleben forderte. Dort ein Ereignis, bei dem vorausschauend ein ganzes Dorf evakuiert werden konnte und eine Person ums Leben kam. Diese beiden Beispiele verdeutlichen, dass es von vielen Faktoren abhängt, ob Naturkatastrophen vorausgesagt werden können und welche Folgen sie haben. «In Blatten haben die vorsorglichen Massnahmen funktioniert, weil das Nesthorn und der Birchgletscher schon längere Zeit unter Beobachtung standen», sagt Frey. Wie der Fall des Piz Scerscen jedoch zeigt, sind längst nicht alle möglichen Gefahrenherde erkannt.
In seiner aktuellen Klima-Risikoanalyse für die Schweiz stuft das Bundesamt für Umwelt (Bafu) Steinschläge, Murgänge oder Felsstürze als eines der relevantesten Risiken des Klimawandels im alpinen Raum ein. Das Bafu rechnet damit, dass bisher sehr seltene Naturgefahren häufiger auftreten werden. Allerdings, so relativiert der Bericht, seien die Auswirkungen meist nur kleinräumig.
Instabilere Systeme
Wirft man einen Blick auf grosse Bergstürze in der Schweiz, so scheinen sie sich tatsächlich in jüngster Zeit zu häufen: Vor Blatten und dem Piz Scerscen stürzten bereits 2023, 2017 und 2011 an verschiedenen Orten grosse Gesteinsmassen ins Tal. Dabei kamen Menschen ums Leben und Häuser sowie Infrastruktur wurde zerstört. Sind hier die Folgen des Klimawandels spürbar?
Für Frey lässt sich aus diesen Fällen kein klarer Trend ablesen. Dazu treten sie zu selten auf. «Es könnte auch Zufall sein.» Grundsätzlich, so sagt Frey, spielten bei einem Bergsturz drei Faktoren eine wesentliche Rolle: die Zusammensetzung des Gesteins, die Geländeform und die Temperatur im Untergrund. Letztere ist im Zuge des Klimawandels in den vergangenen Jahren messbar angestiegen, während sich die anderen beiden Faktoren nicht verändert haben.
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Die Erwärmung, die in der Luft beobachtet wird, ist mittlerweile auch mehrere Dutzend Meter tief im Untergrund nachweisbar, wie Messungen im Permafrost zeigen.
«Die Erwärmung, die in der Luft beobachtet wird, ist mittlerweile auch mehrere Dutzend Meter tief im Untergrund nachweisbar, wie Messungen im Permafrost zeigen», so Frey. Wie sich diese Erwärmung aber konkret auf die Gefahrensituation auswirkt, ist schwer abzuschätzen. Denn letztlich müssen immer verschiedenste Faktoren zusammentreffen, damit grosse Gesteinsmassen ins Rutschen geraten. «Aber tendenziell führt die Erwärmung zu einer Schwächung der Strukturen.»
Künftige Vorfälle simulieren
In seiner Forschung untersucht Holger Frey, was passieren könnte, wenn Geröll, Eis oder Wasser in Bewegung geraten. Dazu erarbeitet er Modelle, die zeigen, wie sich Felsstürze, Eisabbrüche oder Wassermassen im Gelände ausbreiten, wo und wie schnell Wasser und Geröll fliessen. Diese Erkenntnisse helfen vorherzusehen, wo kritische Ereignisse stattfinden können und wie man sich vor ihren Folgen schützen könnte.
«Wir können reale Felsstürze im Nachhinein in Modellen sehr gut rekonstruieren und analysieren», erklärt er. Das hilft, die Prozesse, die bei einem Felssturz ablaufen, besser zu verstehen. Auf der Grundlage solcher Modelle lassen sich auch Szenarien für mögliche zukünftige Vorfälle simulieren. «Die Herausforderung ist, diese Modelle mit möglichst realistischen Daten zu füttern», erklärt Frey.
Wie viel Fels könnte abstürzen? Wie viel Wasser sich aus einem Gletschersee ergiessen? Wie viel Geröll würde es mitnehmen? Ebenso wichtig wie die Abschätzung des Schadenspotenzials ist die Voraussage, mit welcher Wahrscheinlichkeit solche Ereignisse überhaupt auftreten könnten. Dazu fehlen derzeit noch zuverlässige Angaben. Frey arbeitet deshalb daran, möglichst viele Daten über Felsstürze aus aller Welt zusammenzutragen und statistisch auszuwerten. Daraus lassen sich Wahrscheinlichkeiten ableiten, wie oft in einem vergleichbaren Gebiet ein Vorgang dieses Ausmasses in den kommenden zehn oder hundert Jahren vorkommen wird.
Intensiver Starkregen
Gefahren gehen nicht nur von Erdrutschen oder Felsstürzen aus: Der Bericht des Bafu zu Klimarisiken listet unter anderem auch kleinere lokale Überschwemmungen als Klimarisiko auf. «Bei Hochwasser sind Niederschläge im Normalfall der auslösende Faktor», sagt Daniel Viviroli, der am Geographischen Institut an der UZH unter anderem die Auswirkungen des Klimawandels auf Hochwasser untersucht.
Und diese haben in den vergangenen Jahrzehnten messbar zugenommen. Gemäss einer Statistik von Meteo Schweiz wurden die Starkniederschläge in der Schweiz von 1901 bis 2023 sowohl intensiver als auch häufiger. Dabei nahm in den letzten vierzig Jahren vor allem die Intensität von kurzen Starkniederschlägen zu, während die Intensität und Häufigkeit von längeren Niederschlägen zurückging.
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Dass bei steigenden Temperaturen stärkerer Regen fällt, ist physikalisch erklärbar. Je wärmer die Luft ist, desto mehr Feuchtigkeit kann sie aufnehmen.
Dass bei steigenden Temperaturen stärkerer Regen fällt, sei physikalisch erklärbar, sagt Viviroli. Denn je wärmer die Luft ist, desto mehr Feuchtigkeit kann sie aufnehmen. Pro Grad Erwärmung macht das sechs bis sieben Prozent aus. Kommt es zum Niederschlag, ist schlicht mehr Wasserdampf in der Luft, der ausregnen kann.
Wie sich das auf das Hochwassergeschehen auswirkt, ist jedoch weniger eindeutig. Denn letztlich bestimmt auch hier ein Zusammenspiel von vielen Faktoren, ob ein extremer Niederschlag zu einem grossen Hochwasser führt oder nicht. Wie hoch liegt die Nullgradgrenze? Wie viel Wasser befindet sich bereits im Boden? Führen die Flüsse wegen der Schneeschmelze viel Wasser? Wie viel Raum hat ein Fluss zur Verfügung?
Brücken und Dämme planen
Zuverlässige Aussagen darüber, wie häufig sich künftig Hochwasser in einer bestimmten Region ereignen werden, sind deshalb schwierig. Auch hier können Simulationen und Modelle helfen. Viviroli und sein Team haben beispielsweise mit realen Wetterdaten aus den vergangenen neunzig Jahren das Abflussverhalten von Gewässern in der Schweiz modelliert. Diese Modelle helfen zu verstehen, wie häufig Spitzen entstehen und welche Ausmasse sie annehmen können.
Auf dieser Grundlage haben sie zudem mit künstlich erzeugten Wetterdaten Simulationen über mehrere hunderttausend Jahre durchgeführt. Daraus lassen sich auch die extrem seltenen Ereignisse abschätzen, die statistisch nur alle hundert oder tausend Jahre auftreten. Die Frage, wie viel grösser allfällige Hochwasser aufgrund des Klimawandels werden, lässt sich jedoch damit nur schwer beantworten, weil die Klimaszenarien vor allem für kurze Starkniederschläge noch detaillierter werden müssen.
Diese Unsicherheit sei zum Beispiel bei der Planung von Brücken, Dämmen oder weiteren Schutzmassnahmen eine Herausforderung, sagt Viviroli. Welche Szenarien sollen zugrunde liegen, und für wie grosse Wassermassen müssen sie ausgelegt werden? «Natürlich kann man bei der Bemessung einfach die Werte um einen bestimmten Faktor erhöhen», so Viviroli. Damit einigermassen zuverlässige Aussagen über die Zukunft zu erhalten, sei aber wegen der Komplexität der Prozesse nicht möglich.
Flüssen mehr Raum geben
Eine wirkungsvolle Massnahme, um gegen Hochwasser gewappnet zu sein, wäre zum Beispiel, den Flüssen mehr Raum zu geben: etwa indem das Flussbett mit so genannten Aufweitungen verbreitert wird. Bei einem Grossereignis können diese zusätzlichen Flächen die Spitze eines Hochwassers abschwächen. «Doch hier gibt es oft Interessenkonflikte, weil dafür meist Landwirtschaftsland aufgegeben werden muss», sagt Viviroli.
Denn letztlich geht es beim Schutz vor Naturgefahren auch um wirtschaftliche und politische Abwägungen. Dabei spielen Grossereignisse oft eine wichtige Rolle. So wurde nach grossen Überschwemmungen wie etwa 1987 oder 2005 nicht nur die Raumplanung angepasst, sondern auch die Investitionen in den Hochwasserschutz und in Frühwarnsysteme erhöht. Unter anderem wurden entlang der Rhone Schutzmassnahmen über eine Länge von 162 Kilometern geplant.
Das Generationenprojekt dauert mehrere Jahrzehnte und soll insgesamt 3,6 Milliarden Franken kosten. Die Massnahmen könnten, so die Planung, hunderttausend Menschen vor Hochwasser schützen und mögliche Schäden im Umfang von zehn Milliarden Franken verhindern. Der politische Wille, für solche Projekte Geld auszugeben und Flächen umzunutzen, schwankt jedoch. Umso wichtiger ist es, dass die Wissenschaft fundierte Grundlagen für diese Risiko- und Kostenabwägungen liefern kann.