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Semesterpreis

Marienbilder zwischen Tradition und Wandel

Die katholische Frauenbewegung «Maria 1.0» plädiert für eine traditionelle, religiös geprägte Rolle der Frau in der Kirche. Alexandra Probst hat die Bewegung in einer Seminararbeit analysiert und dafür einen Semesterpreis erhalten.
Marita Fuchs

Studierende, die hervorragende Arbeiten geschrieben haben, werden von der UZH mit einem Semesterpreis ausgezeichnet. In einer Serie zeigen wir anhand einiger Beispiele, was eine gute Arbeit ausmacht, worin ihr didaktischer Nutzen besteht, was Studierende zu besonderen Leistungen motiviert und wie sie von Dozierenden unterstützt und betreut werden.

Subjektiv empfundene Religiosität wissenschaftlich zu erfassen – dieser Herausforderung hat sich Alexandra Probst in ihrer Seminararbeit bravourös gestellt. (Bilder: Diana Ulrich)

Die römisch-katholische Kirche steht in der Kritik: Vielen ist sie zu traditionell, zu männerdominiert oder zu hierarchisch organisiert. Katholische Frauen der Bewegung «Maria 2.0» fordern daher seit einiger Zeit umfassende Reformen, insbesondere in Bezug auf die Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche.

Maria braucht kein Update

Dagegen stemmt sich die Initiative «Maria 1.0». Ihr Motto: «Maria braucht kein Update». Sie wurde 2019 von katholischen Frauen als Reaktion auf die Bewegung Maria 2.0 gegründet und vertritt eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte und vermittelt ein traditionelles Marienbild. So fordern die Mitglieder unter anderem eine stärkere Betonung der Mutterschaft und des häuslichen Lebens und lehnen die Öffnung des Priesteramts für Frauen ab. Alexandra Probst erfuhr aus den Medien von Maria 1.0: Ihr Interesse an der – dem Zeitgeist entgegensetzten – Bewegung war geweckt.

Wer «Maria 1.0» googelt, findet eine moderne, professionell gestaltete mehrsprachige Website. «Die Bewegung hat etwa 4'000 Mitglieder und ist sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz aktiv. Sie spricht eher junge Frauen an und wird auch von jüngeren Frauen getragen», sagt Alexandra Probst. 

Als sie im Frühjahr 2023 das Seminar «Diskurs, Praxis und Religionswissenschaft» von Professor Rafael Walthert besuchte, entschied sie sich, ihre Seminararbeit über Maria 1.0 zu schreiben. Sie wollte diese Bewegung mit dem im Seminar behandelten Konzept der Agency in Verbindung setzen. Dieses verortet Handlungen von Individuen in einem strukturierten sozialen und religiösen Rahmen, berücksichtigt aber gleichzeitig auch die individuellen Fähigkeiten, diesen Rahmen zu beeinflussen und zu verändern.

Aneignung und Neuinterpretation

Konkret ging Alexandra Probst der Frage nach, ob und wie Frauen, die sich der traditionsreichen Welt der katholischen Kirche verbunden fühlen, Agency haben. Dabei wollte sie ein erweitertes Verständnis von eigenverantwortlichem Handeln innerhalb repressiver oder autoritärer Strukturen anwenden und die schlichte Alternative zwischen antiautoritärer Kritik und unterwürfigem, affirmativem Verhalten aufsprengen, um den Nuancen dazwischen gerecht zu werden.

In Absprache mit Rafael Walthert entschied sie sich, qualitative Interviews mit zwei Frauen der Bewegung Maria 1.0 zu führen, um herauszufinden, was sie motiviert, wie sie sich als Katholikinnen verstehen und wie sie ihre Rolle in der römisch-katholischen Kirche sehen.

«Ich wurde konfrontiert mit einer Lebenswelt und Überzeugungen, die mir fremd waren», sagt Alexandra Probst. Links: Rafael Walthert, Professor für Religionswissenschaft. Beide Bilder wurden im Zürcher Fraumünster aufgenommen.

«Als Alexandra mir das Thema vorschlug, stellten wir fest, dass es zur Bewegung Maria 1.0 keine wissenschaftlichen Publikationen gab», erzählt Rafael Walthert. Alexandra Probst sagt: «Ein Thema zu wählen, zu dem es noch keine Literatur gab, hat ein wenig Courage gebraucht. Es war eine Herausforderung, die mich angespornt hat». Alexandra Probst habe Pionierarbeit geleistet, sagt Walthert.

Kirchliche Strukturen hinterfragen

«Die Agency-Theorie war für mich ein Werkzeug, mit dem ich die Aussagen der Interviews einordnen konnte», erklärt Probst. Durch das Codieren der Gespräche konnte sie Kategorien herausarbeiten wie: Verhältnis zur Kirche, Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau oder Regulierung des Alltags. Ihr Ergebnis: Die beiden Frauen wollen Änderungen anstossen, auch wenn sie ein traditionelles Konzept verfolgen. 

«Beide sind tiefreligiös, diese Grundhaltung gibt ihnen Kraft und Legitimation, Veränderungen einzufordern», sagt Probst. Sie leben zwar nach den Regeln, üben aber auch Kritik, insbesondere an der aktuellen bischöflichen Auslegung kirchlicher Regeln. Damit widersprechen sie der gängigen Auffassung, traditionell religiös lebende Frauen seien prinzipiell konformistisch und sich in jeder Hinsicht obrigkeitshörig.

Die Interviews offen zu führen und zu versuchen, die Lebenswelt der Interviewpartnerinnen zu verstehen, ohne sich damit zu identifizieren oder über darüber zu urteilen, habe ein hohes Mass an Selbstreflexion erfordert, sagt Probst. «Ich wurde konfrontiert mit einer Lebenswelt und Überzeugungen, die mir fremd waren. Gleichzeitig fand ich es faszinierend, mich mit dieser tief empfundenen Religiosität auseinanderzusetzen.»

Wissenschaftliche Pionierarbeit

Walthert betont die grosse Leistung, eine subjektive religiöse Erfahrungswelt in wissenschaftlichen Kategorien zu beschreiben. Diese Übersetzungsleistung sei Alexandra Probst hervorragend gelungen. Sie habe eine subtile Interviewtechnik angewendet und sich mit einem komplexen soziologischen Theorieansatz vertraut gemacht.  

Für die Beurteilung sei es ihm wichtig, dass die Arbeiten methodisch sauber durchgeführt und auf dem Fundament einer durchdachten Theorie stehen, so dass sie auch in einem wissenschaftlichen Journal erscheinen könnten. Um Studierende beim Schreiben ihrer Arbeit zu unterstützen, bietet Walthert ihnen regelmässige Gespräche an. «Die Hemmschwelle, mich anzusprechen, ist bei uns niedrig, da ich meine Studierenden meist schon aus Proseminaren kenne und die überschaubare Grösse der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät eine gewisse Vertrautheit gewährleistet.»

Alexandra Probst arbeitet inzwischen als Assistentin am Religionswissenschaftlichen Seminar und freut sich, ihr Wissen und ihre Erfahrungen an Studierende weitergeben zu können.