Die Bibel anders leben

Herr Jammerthal, Sie sind als Direktor des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte an der UZH einer der Organisatoren einer internationalen Tagung zum 500-Jahr-Jubliläum der Täuferbewegung. Wer sind die Täufer?
Tobias Jammerthal: Die Täufer legten grossen Wert darauf, die Bibel wortgetreu auszulegen und danach zu leben. Dabei fanden sie vor allem in der Bergpredigt die für sie zentralen Werte wie Gewaltlosigkeit, Feindesliebe und Armut. Ihren Namen erhielten sie von einem weiteren zentralen Anliegen: Die Täufer bestanden darauf, dass keine Kinder getauft werden sollen. Erst Erwachsene sollten sich aufgrund einer bewussten Entscheidung für die Taufe und damit für das Christentum entscheiden.
Am 21. Januar 1525 liess sich in Zürich erstmals ein Erwachsener taufen. Ist die Stadt damit der Geburtsort der Täuferbewegung?
Jammerthal: Zürich kann durchaus als Geburtsstadt der Täuferbewegung betrachtet werden, auch wenn sich zur selben Zeit in Deutschland parallel ähnliche Gruppierungen bildeten. Aber sichtbar als eigenständige Gruppierung wurden die Täufer erstmals an jenem Januartag 1525 in Zürich. Die Taufe eines zuvor schon als Kind getauften Erwachsenen war damals eine Ungeheuerlichkeit. Sie widersprach komplett der bisherigen Tradition: Die Taufe galt im 16. Jahrhundert als nicht wiederholbar. Mit der Taufe eines Kindes wurde dieses in die Gemeinschaft integriert.
![]()
Die Taufe eines zuvor schon als Kind getauften Erwachsenen war damals eine Ungeheuerlichkeit.
Die Täufer hatten komplett andere theologische Vorstellungen als der Protestantismus?
Jammerthal: Man muss dazu sagen: Es gab damals wie heute nicht nur die eine täuferische Kirche oder Theologie. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass die Täuferbewegung viel heterogener war als früher gedacht. Es gab verschiedene Gruppierungen mit unterschiedlichen Ausrichtungen. Aber grundsätzlich kann man sagen, dass die Täufer theologisch gar nicht so weit entfernt waren von den Protestanten. Der Reformator Zwingli etwa war zu Beginn auch offen für die Idee, die Kinder später im Leben zu taufen. Auch er sah keine Notwendigkeit mehr, gemäss der alten Tradition Neugeborene durch die Taufe möglichst schnell vor der Hölle zu retten, falls sie sterben sollten. Zwingli stimmte auch sonst teilweise mit den Ansichten der Täufer überein. Aber er wollte die Reformation nicht gefährden mit zu vielen Neuerungen, wie sie den Täufern vorschwebten. Ausserdem befürchtete er, dass die Täufer die Gesellschaft spalten.
Zwingli und die anderen Reformatoren waren wohl genug beschäftigt mit dem Kampf gegen die papsttreuen Christen?
Jammerthal: Allerdings, da lag die hauptsächliche Auseinandersetzung. Insofern kam die Täuferbewegung sehr ungelegen. Plötzlich waren sie auf zwei Seiten herausgefordert. Die Auseinandersetzung mit den Täufern band Kräfte und lieferte der papsttreuen Gegenseite zudem Argumente. Denn diese konnte jetzt sagen: Seht, die Protestanten sind sich selbst nicht einig, ein typisches Zeichen von Häresie, also Irrglauben. Aber neben diesen theologischen Auseinandersetzungen ist auch klar: Soziale Faktoren waren ebenfalls wichtig, dass sich die Täufer von der Reformation distanzierten.
Inwiefern?
Jammerthal: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war die Zeit der Bauernkriege und der Frage, wie ein gerechterer Ausgleich zwischen Adel, Kirche und Untertanen aussehen kann. Die meisten Reformatoren verteidigten Abgaben wie den «Zehnten» an die Kirche. Bauern und mit ihnen teilweise die Täufer kritisierten dies ebenso wie hohe Steuern an die weltlichen Obrigkeiten. Das beschleunigte den Widerstand gegen die Reformation.
Die Täufer waren Rebellen gegen wahrgenommene Ungerechtigkeit?
Jammerthal: Eigentlich wollten die Täufer vor allem in Ruhe ihre Vorstellungen eines bibelgerechten Lebens führen. Dabei nahmen sie in Kauf, dass sie mit der Obrigkeit in Konflikt gerieten – nicht nur mit der Erwachsenentaufe. Man warf ihnen vor allem vor, dass sie ihren eigenen Weg gehen und sich aus der Gemeinschaft zurückziehen. Man muss sich vorstellen: Zürich bestand Mitte des 16. Jahrhunderts aus rund 5000 Einwohner:innen. Da fiel es auf, wenn gewisse Menschen nicht mehr zum Gottesdienst erschienen. Ausserdem weigerten sich die Täufer, weltlichen Obrigkeiten einen Eid zu leisten und oft auch Militärdienst zu leisten. Damit wurden sie als Gefahr für die bestehende Ordnung betrachtet.
Und entsprechend verfolgt?
Jammerthal: Ja, und dabei war zentral, dass Kirche und Staat damals kaum getrennt waren. In einem bestimmten Herrschaftsbereich konnte es nur eine einzige Religion geben. Insofern fühlten sich auch in Zürich die Ratsherren dafür verantwortlich, dass in ihrem Gebiet die richtige Gottesverehrung stattfindet. Erst versuchte man den Widerstand der Täufer «nur» mit Strafen wie Bussen und Landesverweisen zu brechen. Als das nicht fruchtete, wurde die Verfolgung um die Mitte des 17. Jahrhunderts verstärkt – bis zur Todesstrafe.
Zürich bestand Mitte des 16. Jahrhunderts aus rund 5000 Einwohner:innen. Da fiel es auf, wenn gewisse Menschen nicht mehr zum Gottesdienst erschienen.
Wie lange hielt diese Verfolgung an?
Jammerthal: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Wobei sie je nach Ort und Zeit unterschiedlich stark war. Es gab Regionen, wo die Obrigkeiten die Täufer duldeten. Die Täufer waren oft erfolgreiche Kaufleute und Handwerker. So erlaubte man ihnen bisweilen, sich vom Militärdienst freizukaufen. Insbesondere mit dem Beginn der Aufklärung gewöhnten sich die Menschen zudem schrittweise an die Vorstellung, dass in einer Gemeinschaft verschiedenen Formen von Christentum parallel existieren können.
So wie die Täufer bekämpft wurden, ist es nicht erstaunlich, dass es sie überhaupt noch gibt?
Jammerthal: Doch, denn der Verfolgungsdruck war gross. Historisch betrachtet war es meist so, dass sich abspaltende religiöse Gruppen entweder unterdrückt wurden und mit der Zeit verschwanden oder wieder in die Mehrheitskirche integriert werden konnten. Die Täufer aber haben es geschafft, eine Alternative zur etablierten Kirche aufzubauen. Viele flüchteten, etwa ins Elsass oder nach Amerika. Dort gründeten sie die Gemeinschaften der Mennoniten, Hutterer und Amish.
Welche Bedeutung haben die Täufer heute?
Jammerthal: Man schätzt, dass es heute weltweit rund zweieinhalb Millionen Gläubige gibt, die sich in der Tradition des Täufertums der Reformationszeit sehen. Mit der ökumenischen Bewegung ergab sich ab den 1980-Jahren eine zunehmende Annäherung und Versöhnung zwischen Protestanten und Täufern. So entschuldigte sich beispielsweise die Reformierte Kirche des Kantons Zürich 2004 für die Verfolgung der Täufer, die gemäss einer damaligen Verlautbarung ein Verrat an der Reformation war.
Die Täufer zeigten, dass es alternative Formen des reformierten Christentums gibt.
Welche Spuren haben die Täufer aus Ihrer Sicht hinterlassen?
Jammerthal: Einige ihrer Ideen – etwa die Forderung nach Religionsfreiheit oder der Trennung von Kirche und Staat – haben Eingang gefunden in moderne demokratische Gesellschaften. Viele ihrer einst radikalen Ideen sind heute selbstverständlich. Historisch betrachtet haben die Täufer aufgezeigt, dass es möglich ist, andere Konsequenzen aus der Bibellektüre zu ziehen, als es die Reformatoren wie Zwingli taten. Sie zeigten, dass es alternative Formen des reformierten Christentums gibt. Das kann auch heute aktuell sein. Wenn etwa in Europa derzeit viel von Aufrüstung gesprochen wird, können die Täufer uns zum Nachdenken anregen, welchen anderen Wege zum Frieden es geben kann. Insofern sind die Täufer eine theologische und gesellschaftliche Bereicherung.
Welchen Stellenwert hat die Universität Zürich bei der Erforschung der Geschichte der Täuferbewegung?
Jammerthal: Als Geburtsort der Täuferbewegung kommt Zürich vor allem eine grosse Bedeutung dabei zu, die historischen Quellen sicherzustellen und der Forschung weltweit zugänglich zu machen. Auf die Fachtagung hin können wir neue, bisher unerschlossene Beiträge liefern. Das ist umso wichtiger, als vieles von dem, was wir über die Täufer wissen, aus Dokumenten der Verfolgungsbehörden stammt. Entsprechend vorsichtig muss man mit diesen Quellen umgehen und auch nach alternativen Quellen suchen. Das Jubiläum ist zudem eine gute Gelegenheit, sich der Bewegung zu erinnern. Die Täufer sind eine wesentliche Dimension in der Geschichte der Schweizer Reformation. Eine vergleichbare Bewegung hat es später nie mehr gegeben.