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Wissenschaft und Politik

«Mehrstimmigkeit müssen wir aushalten»

Eine der wichtigsten Fragen unserer Gesellschaft betrifft das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Was können wir aus der Pandemie dazu lernen? Die beiden Bereiche sollten sich stärker austauschen und besser miteinander kommunizieren, finden Politgeograph Michael Hermann und Medizinhistoriker Flurin Condrau.
Interview: Stefan Stöcklin

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«Man müsste auf Seiten der Wissenschaft mehr in Beziehungen zu Entscheidungsträgerinnen und -trägern investieren,» sagt Politologe Michael Hermann. (Bild: Frank Brüderli)

 

Covid-19 ist eine Katastrophe mit Ansage, die Wissenschaft warnt seit Jahren vor neuen Seuchen. Die Politik wurde ­dennoch überrumpelt und setzte eine Science Task Force ein, notabene auf Initiative der Forschenden. Ist die Wissenschaft in der Schweizer Politik institutionell genügend verankert?

Michael Hermann: Ich würde die Fragestellung relativieren. Es stimmt zwar, dass einige Forscherinnen und Forscher vor einer Pandemie gewarnt haben, aber die Wissenschaft ist auch überrumpelt worden. Das zeigt sich schon an der Verteilung von Forschungsgeldern, virale Krankheiten waren kein Trendthema. Wie die Politik und die Gesellschaft musste auch die Forschung zuerst realisieren, was die Pandemie bedeutet.

Flurin Condrau: Man könnte auch sagen, dass die Schweiz relativ gut auf die Pandemie vorbereitet war, denn sie hatte im Unterschied zu anderen Ländern frühzeitig einen Pandemieplan. Aber die Implementierung ab März 2020 war reine Improvisation. Das betrifft auch die Art und Weise, wie die Science Task Force installiert wurde. Es gab kein geordnetes Vorgehen auf Antrag der Politik und keine strukturierte Zusammensetzung dieses Gremiums, das zunächst offenbar gegen den Willen des Bundesamts für Gesundheit BAG eingesetzt wurde. Manche Disziplinen sind zunächst auch vergessen gegangen, zum Beispiel die Palliativmedizin. Diese unkonventionelle Art und Weise der Zusammenstellung des Gremiums hat sicher nicht zur Stabilität der offiziellen Kommunikation beigetragen. Bis heute ist der genaue Auftrag dieser Taskforce eigentlich unklar geblieben.

Hermann: Genau, die ganze Gesellschaft musste bei diesem Jahrhundertereignis so viel improvisieren wie nie zuvor. Auch für die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik brauchte es einen Lernprozess. Diese Sphären sind in normalen Zeiten deutlich getrennt und interagieren nicht direkt, der Austausch musste erst einmal geübt werden. So haben viele Forscherinnen und Forscher zuerst über die Medien kommuniziert, statt die Verantwortungsträgerinnen und -träger anzusprechen, was eine öffentliche Debatte und eine Abwehrhaltung auf der politischen Seite ausgelöst hat. Umgekehrt war die Politik nicht bereit, die wissenschaftlichen Kanäle abzurufen. Dieses Vorgehen hat mich überrascht. Wenn man früher direkt aufeinander zugegangen wäre, hätte es weniger Konflikte gegeben. Dass diese Welten in unserem kleinen Land mit seiner demokratischen Kultur so hermetisch getrennt sind, finde ich erstaunlich. Da besteht viel Verbesserungspotenzial.

Wissenschaft und Politik seien getrennte Sphären, sagt Michael Hermann. Sind Sie gleicher Meinung, Herr Condrau?
Condrau: Ich würde nicht sagen, dass Wissenschaft und Politik a priori getrennt sind. Bereits die Organisation der Wissenschaften selbst  ist eindeutig ein politischer Prozess. Unser Gesundheitssystem, die Förderung der hochintensiven therapeutischen Medizin beispielsweise, ist ein Produkt der Politik und der Wissenschaft. Ebenso die Vernachlässigung des Bereichs Public Health, der auf Sparflamme gehalten wird. Wo die Trennung augenfällig wurde, war bei der Entscheidungsfindung in Bezug auf politische Massnahmen.
Wir konnten sehen, wie teils politische Entscheidungen fast ohne Rücksichtnahme auf die Expertinnen und Experten getroffen wurden. Das ist im Fall einer Pandemie natürlich fatal. Wenn man zum Beispiel nicht weiss, was exponentielles Wachstum bedeutet, und politisch über Lockerungen entscheidet, dann wird’s rasch einmal heikel.

Hermann: Aber ich würde die Kritik schon an die Wissenschaft zurückspielen. Klar, ein exponentielles Wachstum ist schwierig zu vermitteln. Aber was ich als störend empfunden habe, ist diese etwas herablassende Haltung der Wissenschaft gegenüber der Politik, dieser Anspruch des Besserwissens. Die Denklogik der Wissenschaft ist extrem disziplinär, das wird durch die Publikationskultur gefördert. Man ist immer auf sich selbst bezogen, hat klare Meinungen, was richtig und was falsch ist, und das wird dann auf die Politik übertragen. Aber es gibt in der Politik keinen richtigen Weg, und dann sind alle Probleme gelöst, oder einen falschen, und dann läuft alles schlecht.
Da finde ich schon, dass es mehr Durchlässigkeit bräuchte, etwas mehr Demut – Politikerinnen und Politiker haben auch Expertise, sie wissen besser als Forschende, wie man Dinge der Öffentlichkeit verkauft und sie umsetzt. Man müsste sich gegenseitig stärker anerkennen.

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«Man macht sich schnell etwas verdächtig, wenn man zu oft in den Medien erscheint,» sagt Medizinhistoriker Flurin Condrau. (Bild: Frank Brüderli)

Wie liesse sich die gegenseitige Zusammenarbeit verbessern?

Hermann: Es geht weniger darum, dass mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Parlament sitzen, als vielmehr um die Durchlässigkeit zwischen den Sphären. Man müsste sich stärker austauschen und besser kommunizieren. Die Pandemie ist ja auch eine Chance für die Wissenschaft, viele Menschen habe ihre Bedeutung erst in dieser Bedrohung erkannt. Das ist eigentlich die perfekte Gelegenheit für eine Public-Relations-Kampagne zur Rolle der Wissenschaft.

Condrau: Ich bin auch eine Art von Pandemiegewinnler. (lacht) Als Medizinhistoriker habe ich viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Und ich bin sofort einverstanden: Was nicht geht, ist mit dem Wissenschaftsbild des 19. Jahrhunderts zu sagen, wir haben jetzt dies oder jenes beschlossen und so muss das gemacht werden. Umgekehrt ist es aber so, dass die Wissenschaft ein polyphones Gebäude ist. Es gibt nicht DIE Wissenschaft, sondern eine enorme Spezialisierung. Die Frage ist daher: Wen will man eigentlich hören, mit wem sprechen?

Wen hätte man denn stärker einbeziehen sollen?

Condrau: Mein grösstes Bedauern in Bezug auf die Pandemie ist, dass wir in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig Public-Health-Forschung betrieben haben. Dafür zahlen wir nun einen relativ hohen Preis, weil sich in der Öffentlichkeit zwar eine Vielzahl von Stimmen melden, aber echte Public-Health-Leitfiguren wie anderswo fehlen. Ich denke zum Beispiel an Devi Sridhar in Schottland, eine Expertin für Global and Public Health, die seit Beginn der Pandemie eine klare Linie vorgegeben und eine unglaubliche Resonanz erreicht hat. Oder an Anthony Fauci in den USA, einen erfahrenen Kommunikator und Public-Health-Wissenschaftler. Teil des Problems ist, dass wir es in der Schweiz verpasst haben, den Bereich Public Health schon vor der Pandemie auch in der Öffentlichkeit zu verankern.

Hermann: Da besteht nun eine Chance, aus der Krise heraus diese Bereiche aufzubauen. Das wäre ein Learning für die Wissenschaft, jetzt sind Dinge möglich, die im Normalfall nicht möglich sind. In einer Krisensituation verschieben sich die Wahrnehmungen – Sachverhalte werden neu evaluiert, Strukturen werden aufgebrochen.
Jetzt wäre der Moment, für die Zeit nach der Pandemie vorauszudenken und zu überlegen, wie die öffentliche Wahrnehmung für diese Ziele genutzt werden könnte. Insofern finde ich es dann wieder erstaunlich, wie unpolitisch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind und in dieser tagesaktuellen Debatte verhaftet bleiben, statt strategisch vorauszudenken. Das wäre jetzt eigentlich angezeigt.

Was könnte die Wissenschaft in die Politik einbringen?

Hermann: Vom Bereich Public Health haben wir schon gesprochen. Ich denke auch an  Strukturen wie die Science Task Force, man könnte versuchen, sie für weitere Themen zu etablieren. Oder das BAG: Wie kann man dort den Weg zwischen Wissenschaft und Politik verkürzen?

Condrau: Man wundert sich ja nur noch, wie Gesundheitspolitik in der Schweiz abläuft. Wer durchschaut das eigentlich noch? Reformen und Reförmchen werden durch Interessengruppen abgeschossen, bevor auch nur eine ernsthafte Diskussion darüber stattgefunden hat.
Die politische Einflussnahme verläuft leider nicht sehr transparent in der Öffentlichkeit und den Parlamenten, die Interessenvertreter nutzen andere Kanäle. Im vergangenen Herbst wurde ja scherzhaft gesagt, dass jeder Lobbyist die Handynummer von Alain Berset habe, aber der Bundesrat keine der massgebenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihn beraten könnten.

Hermann: Es ist schon erstaunlich: Die Schweizer Wissenschaft ist unter sich national und international gut vernetzt, aber wenn es um die Öffentlichkeit geht, werden primär die Medien als relevant angesehen. Aber wer häufig in den Medien ist, hat noch nicht das Gehör des Bundesrats.
Man müsste auf Seiten der Wissenschaft mehr in persönliche Beziehungen mit Entscheidungsträgerinnen und -trägern investieren. Es gibt nur ganz wenige, die das verstanden haben und es auch tun.
Entscheidend in Bezug auf Einflussnahme wäre, im richtigen Moment hinter den Kulissen etwas verdeckt an die Entscheidungsträger zu gelangen. Weniger hilfreich sind überladene, wissenschaftlich austarierte Expertengremien, die geschliffene Statements publizieren.

Condrau: Aber das widerspricht dem Naturell der Forschenden. Diese Art von politischer Netzwerkbeziehung wird völlig unterschätzt. Darüber hinaus macht man sich auch schnell etwas verdächtig, wenn man zu oft in den Medien erscheint. Viele wollen das nicht.

Hermann
«Es wäre wichtig, auch Unsicherheiten zu kommunizieren, das schwächt die Aussagen nicht,» sagt Michael Hermann. (Bild: Frank Brüderli)

Hermann: Aber trotzdem wird die mediale Publizität als wichtig erachtet. Das ist eigentlich erstaunlich. Einerseits wird Öffentlichkeit in wissenschaftlichen Kreisen gerne kritisch betrachtet, andererseits ist Präsenz in der Öffentlichkeit eine verschämt angeguckte Währung. Vergessen geht dabei, wie wichtig der Aufbau von Netzwerken ist.

Rund um die Science Task Force ist Kritik und Polemik zu hören. Bemängelt wurde unter anderem, dass ihre Mitglieder öffentlich Stellung nehmen und den Bundesrat kritisieren. Ist diese Kritik an der Regierung okay?

Condrau: Soweit ich das Mandat kenne, gibt es für mich überhaupt keinen Grund, am Prinzip der Redefreiheit der Personen zu rütteln. Ob dann jedes Statement auch klug ist, ist eine andere Frage. Es gab etliche Äusserungen von Seiten der Wissenschaft, die vielleicht etwas fragwürdig waren. Aber das stört mich nicht, diese Mehrstimmigkeit müssen wir aushalten.
Problematischer finde ich die insgesamt unbefriedigende Krisenkommunikaton der Schweiz durch das BAG. Wenn ich das mit der Kommunikation des gleichen Amts in den 1980er- und 1990er-Jahren zu HIV und Aids vergleiche, dann wundere ich mich schon. Die Aids-Kommunikation der Schweiz wurde damals international bewundert. Die Corona-Kommunikation der Schweiz will wohl niemand imitieren.

Hermann: Da muss ich etwas einwenden: Eine Krise ist nicht durch eine Kommunikationskampagne zu bewältigen. Was wir jetzt erleben, ist viel weitgreifender als HIV und Aids. Interessant ist, dass in unseren Umfragen für die SRG eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sagt, dass sie es richtig finde, dass sich die Forschenden frei äussern. Sie ist also gegen einen Maulkorb. Viel Gift in dieser Debatte stammt aus dem politischen System, das für oder gegen die Wissenschaft Partei nahm und versuchte, daraus parteipolitisch Kapital zu schlagen.
Man kann Vertrauen als Gradmesser für gute Kommunikation betrachten. Gemäss den Umfragen ist das Vertrauen letzten Herbst in sich zusammengebrochen. Seit der Bundesrat konsequenter führt und sich weniger unter Druck setzen lässt, steigt das Vertrauen wieder. Ich bin eigentlich sehr beeindruckt von der Lernfähigkeit unseres Systems.

Condrau: Ich sehe auch, dass der Bundesrat seit diesem Februar begonnen hat, eine Strategie zu entwickeln, aber es hat ein Jahr gedauert. Sie ist die Grundlage für eine klarere Botschaft und Kommunikation. Aber ein klares Ziel der Pandemiepolitik fehlt ja immer noch. Für die Abrechnung zur Tragfähigkeit des politischen Systems angesichts dieser Krise ist es aber noch zu früh. Grundsätzlich haben viele begriffen, dass eine Krise Führung braucht, aber die Schweiz hat eben ein gespaltenes Verhältnis dazu. Führung und Elite werden hierzulande kritisch angesehen.

Wir erleben, wie die Pandemie sich immer wieder anders entwickelt als vorausgesagt. Wie beurteilen Sie den Umgang von Wissenschaft und Politik mit Unsicherheit?

Hermann: Problematisch ist es immer dann geworden, wenn wissenschaftliche Prognosen zu absolut formuliert worden sind und sich dann nicht bewahrheitet haben. Es wäre wichtig, auch Unsicherheiten zu kommunizieren, das schwächt die Aussagen nicht. Da gibt es sicher Verbesserungspotenzial.

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«Es braucht eine gewisse Fehlertoleranz. Das gilt für den politischen Prozess ebenso wie für die Wissenschaft», sagt Flurin Condrau. (Bild: Frank Brüderli)

Condrau: Grundsätzlich braucht es eine gewisse Fehlertoleranz, man darf von den Akteuren keine Perfektion verlangen. Das gilt für den politischen Prozess ebenso wie für die Wissenschaft. Erschwerend im Austausch von Wissenschaft und Politik ist, dass die Wissenschaft häufig differenzierte Analysen liefert, die Politik aber eindeutige Ergebnisse wünscht. Das scheint mir eine Schwäche der Wissenschaft zu sein, dass sie mit wissenschaftlichen Diskursen das öffentliche Gespräch sucht. Ich weiss nicht, ob das funktionieren kann.

Hermann: Ich würde da nicht so klar zwischen «analysierender» Wissenschaft und «eindeutiger» Politik unterscheiden. Es gibt auch viele Politikerinnen und Politiker, vornehmlich in Exekutivfunktionen, die sich sehr abwägend äussern. Umgekehrt veröffentlichen etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr populistische Tweets. Soziale Medien verleiten zu emotionalen und direkten Statements. Dagegen sind auch Wissenschaftler nicht gefeit.

Sollten sich Forschende in Sachen Äusserungen in Social Media zurückhalten?

Condrau: Nein, warum? Es ist doch egal, wenn sie manchmal sogar emotionale Debatten anheizen, sie sind ja auch nur Menschen. Über den gesellschaftlichen Wert von Social Media kann man sicher diskutieren. Aber ich sehe überhaupt nicht, auf welcher Grundlage man jemandem diese Kanäle verbieten sollte.

Hermann: Ich finde schon, dass es zuweilen an Selbstkontrolle fehlt. Man sollte sich sehr bewusst sein, in welchem medialen Raum man sich da bewegt, was es für die Wahrnehmung der Wissenschaft bedeutet, wie schnell ein Tweet in die Medien kommen kann. Aber Vorschriften halte ich auch für verfehlt.

Im Laufe der Pandemie wurde von Seiten der Politik immer wieder das Gespenst einer Expertokratie an die Wand gemalt, einer Dominanz der Wissenschaft über die Politik. Diese Gefahr sehen Sie offensichtlich nicht.

Hermann: Nein, dazu agieren die wissenschaftlichen Expertinnen und Experten politisch zu wenig geschickt.

Condrau: Eine Expertokratie funktioniert nicht einmal in einem autoritären Staat, selbst in China nicht. Aber es ist sicher vernünftig, dass man in einer Pandemie stärker auf die Expertinnen und Experten hört, die schon länger mit Pandemien zu tun haben. Ich denke da an die Virologinnen und Virologen, die vergangene Ausbrüche wie Sars, Schweinegrippe oder Ebola untersucht haben. Die Gesellschaft hat in der Schweiz noch zu wenig akzeptiert, dass man das Primat auf die Bewältigung der aktuellen Krise legen und die politischen Machtkämpfe verschieben muss. Die Krise ist noch nicht vorbei.

Flurin Condrau, Professor für Medizingeschichte
Michael Hermann, Sozialgeograph und Politologe,
Geschäftsführer Sotomo

Das Gespräch stammt aus der aktuellen Ausgabe des UZH Journal

 

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