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Covid-19

«Unsicherheiten klar kommunizieren»

Noch nie stand die Wissenschaft derart im öffentlichen Rampenlicht wie jetzt wegen Covid-19. Kann sie davon profitieren? Der Epidemiologe Milo Puhan und der Kommunikationswissenschaftler Mark Eisenegger diskutieren den Prestigegewinn, aber auch was auf dem Spiel steht.
Interview: Stefan Stöcklin

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PUhan Eisenegger
Milo Puhan (li) und Mark Eisenegger analysieren die spannungsreiche Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. (Bild: Frank Brüderli)

Herr Puhan, Sie sind Epidemiologe und ein gefragter Covid-19-Experte in den Medien. Wie erleben Sie das öffentliche Interesse an Ihrem Fachgebiet – der Epidemiologie?
Milo Puhan: Die Zusammenarbeit mit den Medienleuten aus Print, Radio und Fernsehen läuft gut, das Interesse ist riesig und es gibt wenig Effekthascherei. Ich erlebe die grosse Nachfrage als positiv, obwohl ich in den letzten Monaten bei Medienanfragen einfach aus Zeitgründen auch sehr häufig absagen musste.

Die Epidemiologie ist mit der Pandemie ins Rampenlicht der Medien gerückt. Hat Sie das überrascht?
Puhan: Nein, eigentlich nicht. Wir stehen häufig im Zentrum medialen Interesses, wenn es um öffentliche Gesundheit geht, zum Beispiel bei chronischen Krankheiten. Aber wesentlich ist ja nicht die Disziplin der Epidemiologie, sondern unser Fachwissen.

Herr Eisenegger, Sie haben die Berichterstattung in den Medien zu Covid-19 untersucht und als qualitativ gut beurteilt. Ist die Corona-Krise für die Wissenschaft eine Chance, erhöht sie ihr Renommee in der Öffentlichkeit?
Mark Eisenegger: Die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber der Wissenschaft ist generell positiv, das zeigt sich zum Beispiel in den Studien des Wissenschaftsbarometers meines Kollegen Mike Schäfer: 57 Prozent der Bevölkerung vertrauen stark oder sehr stark in die Wissenschaft. Es gibt in der Schweiz leider noch keine Langzeitwerte, aber Erhebungen aus Deutschland zeigen, dass die Vertrauenswerte in der Corona-Krise nochmals gestiegen sind. Man kann sagen, dass das Wissenschaftssystem in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger als systemrelevant betrachtet wird.

Was heisst systemrelevant in diesem Zusammenhang?
Eisenegger: Grosse Teile der Öffentlichkeit nehmen wahr, dass die Wissenschaft zur Lösung der Situation unverzichtbar ist. Die Gesellschaft und die Politik warten jetzt auf einen Impfstoff, und es ist klar, dass die Wissenschaft die treibende Rolle spielt. Insofern hat sich der Ruf der Wissenschaft nochmals verbessert, aber es gibt auch Unsicherheiten. Die öffentliche Debatte hat gezeigt, dass Befunde zu Covid-19 widersprüchlich sein können, dass es auch Studien gibt, die nicht validiert sind oder deren Evidenz unsicher ist.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?
Eisenegger: In den sozialen Medien beobachten wir einen hochgradig emotionalen Diskurs, zum Teil auch desinformative Tendenzen. Alle möglichen Gruppierungen beziehen sich in der digitalen Kommunikation auf Studien und argumentieren teils mit pseudowissenschaftlicher Evidenz. Das zeigt schon auch, dass Wissenschaft ein umstrittenes Feld ist.  

Wie erleben Sie diese wissenschaftlichen Diskussionen und die Erwartungen an Ihre Arbeit?
Puhan: Ich finde sie grundsätzlich positiv, auch der Austausch kontroverser Argumente findet mehrheitlich auf einer konstruktiven Ebene statt. Wenn ich die Situation mit Deutschland vergleiche, war der Ton dort viel härter und die Kollegen wurden persönlich angegriffen. Was aus Sicht der Universitäten sehr wichtig ist, betrifft das in uns gesetzte Vertrauen. Das ist das höchste Gut, das wir haben, und wir müssen extrem Sorge tragen, es nicht zu verspielen. Sei es mit Interessenkonflikten oder Fehlverhalten, Stichwort wissenschaftliche Integrität. Das halte ich für ganz wichtig.  

Man hat den Eindruck, dass in dieser Krise einer breiten Öffentlichkeit erstmals bewusst wird, wie Wissenschaft funktioniert. Die Leute können verfolgen, wie die Forschenden laufend ihre Annahmen aufgrund neuer Evidenz korrigieren, wie sich die Wissenschaft vortastet. Teilen Sie diesen Eindruck?
Eisenegger: Teils, teils. Ich sehe auch, dass das Verständnis für die innerwissenschaftlichen Routinen gewachsen ist, aber ich denke, es handelt sich dabei eher um einen Diskurs unter Eliten. Ich glaube, viele Bürgerinnen und Bürger verstehen noch nicht, dass es zum Wesen der Wissenschaft gehört, vorläufige Evidenz zu produzieren. Dass gesittete Kontroversen und Skeptizismus normal sind. Das ist auch erklärbar, die Grundlogik, nach der Medien funktionieren, ist eine andere als die, die wir aus der Wissenschaft kennen.  

Inwiefern unterscheiden sie sich?
Eisenegger: Die Medien haben grösste Mühe, mit vorläufiger Evidenz oder Unsicherheit umzugehen – gerade in einer Krisensituation mit grossem Zeitdruck. Entweder ist etwas richtig oder falsch. In der Wissenschaft hingegen ist ein Skeptizismus üblich, und der wird in den Medien oft als Streit dargestellt. Das kann sogar in eine Skandalisierung gegenüber Forschenden münden, die ihre Meinungen aufgrund neuer Studien teilweise revidieren müssen. Was im Wissenschaftsbetrieb normal ist.  
Puhan: Anzufügen wäre, dass die Wissenschaft auch nicht immer den Job macht, den sie machen müsste. Die Anreize sind halt auch so, dass spektakuläre Ergebnisse stärker belohnt werden. Aus diesem Grund gibt es Leute, die Ergebnisse aufs Ärgste vereinfachen. Das verhilft kurzfristig zu einer griffigen Story, aber dient der Sache oftmals nicht. 

Eisenegger
«Die Wissenschaft wird von vielen Menschen als systemrelevant betrachtet», sagt der Kommunikationswissenschaftler Mark Eisenegger. (Bild: Frank Brüderli)

Was müsste die Wissenschaft tun, damit diese Diskussions- und Streitkultur besser rüberkommt?
Eisenegger: Milo Puhan hat einen wichtigen Punkt aufgegriffen: Es wird zu oft zu stark zugespitzt, auch in der Kommunikation von Hochschulen. Dagegen werden die Begrenzungen und Unsicherheiten der Ergebnisse nach aussen viel zu wenig vermittelt. Was wir bräuchten, ist ein offensiver Umgang mit Unsicherheit. Manche Qualitätsmedien machen das und zeigen die Grenzen wissenschaftlicher Studien auf. Ich halte das für eine wichtige Voraussetzung, um das Vertrauen, das so essenziell ist, erhalten zu können.
Puhan: Was mich optimistisch stimmt: Ich erhalte vermehrt Anfragen von Medienvertretern und -vertreterinnen, die sich nicht nur für die Ergebnisse unserer Studien interessieren, sondern von Anfang an dabei sein wollen, um die ganze Story zu erzählen. Zum Beispiel bei der Studie «Ciao Corona» zur Ausbreitung des Coronavirus bei Schulkindern. Das finde ich gut, so lässt sich zeigen, was es alles braucht und wie wir arbeiten.  

Kommen wir zur Politik: Die Wissenschaft wägt verschiedene Positionen ab, die Politik muss darauf aufbauend klare Entscheide fällen. Milo Puhan, Sie sind Mitglied der Nationalen COVID-19 Science Task Force: Wie funktioniert diese Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft?
Puhan: Die Politik hat sicher den schwierigeren Job als die Wissenschaft und muss mehr Faktoren berücksichtigen. Ich denke, wir als Vertreter der Wissenschaft sind ein Puzzlestein in dieser Entscheidfindung, dessen muss man sich bewusst sein, sei es auf kantonaler oder nationaler Ebene. Herausfordernd für die Forschung ist es, die Meinungen der Wissenschaft in die richtigen politischen Kanäle zu leiten, damit unsere Haltung ankommt. Das zeigen auch meine Erfahrungen im Health Policy Making. Die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik sind ungenügend, oft auch nur deshalb, weil die administrativen Prozesse unklar sind.

Heisst das, Ihre Empfehlungen werden zu wenig beachtet?
Puhan: Es ist sehr schwierig, zu beurteilen, was von den Policy Briefs der Task Force aufgenommen wird und was nicht. Denn zwischen unseren Empfehlungen und den politischen Entscheidungen liegen so viele Schritte, in die wir keinen Einblick haben, dass die Bewertung schwierig ist. Ich würde es begrüssen, wenn die Entscheidfindung in der Politik transparenter gestaltet würde. Es wäre schön, zu sehen, wo der wissenschaftliche Input etwas gebracht hat und wo nicht. Dann könnte man auch den Prozess verbessern.
Es gilt allerdings zwischen den legislativen und exekutiven Prozessen zu unterscheiden. Der legislative Prozess in den Parlamenten ist in der Schweiz transparent und gut dokumentiert. Sicher auch weil er langsamer ist. Dagegen ist der exekutive Prozess, gerade in dieser Covid-Zeit, extrem schnell.

Was sagen Sie zu dieser Schnittstelle Wissenschaft und Politik?
Eisenegger: Es handelt sich um ein sehr spannungsreiches und ambivalentes Verhältnis. Wer eine bestimmte Politik durchbringen will, versucht sie mit wissenschaftlicher Evidenz zu begründen. Das bedeutet, dass die Wissenschaft Gefahr läuft, von der Politik für politische Ziele instrumentalisiert zu werden, Stichwort USA oder Ungarn. Aus diesem Grund müssen die Wissenschaftsfreiheit und die Unabhängigkeit immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Damit eine demokratische Gesellschaft kluge Entscheidungen fällen kann, ist es auf der anderen Seite notwendig, dass die Wissenschaft ihre Rolle spielen kann. Ich sehe diese Rolle so, dass man die wissenschaftlichen Befunde vermitteln und dem öffentlichen Diskurs aussetzen sollte. Diese Vermittlungsfunktion in die Öffentlichkeit ist eine zentrale Aufgabe der Wissenschaft, die sie wahrnehmen muss, damit sie über den öffentlichen Diskurs Einfluss auf politische Entscheide nehmen kann. 

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«Wir dürfen das in uns gesetzte Vertrauen nicht verspielen», sagt der Epidemiologe Milo Puhan. (Bild: Frank Brüderli)

Beim Klimawandel warnen Forscherinnen und Forscher seit Jahrzehnten, ohne dass viel passiert ist. Könnte der Vertrauensbonus, den die Wissenschaft dank Covid-19 erhält, der Klimadiskussion mehr Schub verleihen?
Eisenegger: Man muss sehen, dass es zwischen der Covid-19-Pandemie und der Klimaproblematik zwar Parallelen, aber auch Unterschiede gibt. Beide Bedrohungen sind für die Menschen relativ abstrakt, das heisst, sie werden massgeblich via Medien und von der Wissenschaft vermittelt. Ein wichtiger Unterschied liegt aber darin, dass die Klimaproblematik über Jahrzehnte akut sein wird und eine entsprechend langfristige Politik verlangt, was schwieriger zu vermitteln ist.
Covid-19 hingegen hat in kürzester Zeit den Alltag umgekrempelt. Die hoch getaktete Medienarena passt viel besser zur Corona-Problematik mit ihren täglichen Infektions- und Todesraten. Meine Hoffnung ist, dass bei beiden Bedrohungen klar wird, dass kollektives Handeln der Bevölkerung zur Lösung beitragen kann. Diesen Lernprozess durchlaufen wir jetzt mit Covid-19 mit Social Distancing und Masken.  
Puhan: Diese Differenzen zwischen kurz- und langfristigen Bedrohungen sehen wir auch in der Gesundheit, Stichwort chronische Krankheiten. Wir kommen bei Themen wie Rauchen oder Übergewicht nur langsam voran, weil die Gefahren nicht so unmittelbar sind. Bei Covid-19 dagegen reagieren wir sehr rasch und massiv. Ich hege ebenfalls die Hoffnung, dass wir dank der Corona-Pandemie auch bei anderen Gesundheitsthemen in Zukunft mehr erreichen können. Wir sind über das Corona-Immunitas-Programm mit sehr vielen Stakeholdern aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft in Kontakt. Da entstehen neue Netzwerke und Kontakte, die für die Umsetzung von Public-Health-Programmen sehr wertvoll sein werden.

Wir haben von der Kraft wissenschaftlicher Argumente gesprochen, die im Fall von Covid-19 in der Öffentlichkeit ankommen. Im Fall von Gentechpflanzen hingegen steht die Wissenschaft in der Schweiz auf verlorenem Posten, Freisetzungen sind tabu – obwohl kaum Risiken verbrieft sind. Was ist da passiert?
Eisenegger: Die Gentechfreisetzungs-Debatte ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, dass der öffentliche Diskurs nicht nur auf rationale Argumente abgestützt ist. Es gibt gerade in der Gentechdebatte einen extrem moralisch aufgeladenen Diskurs der Gegnerinnen und Gegner, die ihre Argumente mit viel Energie öffentlich verbreiten. Die Gegenseite argumentiert vorwiegend auf der sachlichen Ebene.
Aber mit sachlich rationalen Argumenten lässt sich ein moralischer Diskurs nicht eindämmen. Solange die Befürworter keine moralischen Argumente in Kombination mit wissenschaftlicher Evidenz anführen können, werden sie es schwer haben. Die Wunschvorstellung wäre, dass wir sachlich und auf Evidenz basierend streiten. Aber die öffentliche Kommunikation funktioniert nicht auf dieser Ebene allein. Vor allem nicht in sozialen Medien. Deren wachsende Bedeutung zeigt, dass es eher schwieriger geworden ist, mit sachlichen Argumenten gesellschaftliche Beachtung zu erhalten.  

Aber zeigt Covid-19 nicht gerade das Gegenteil?  
Eisenegger: Nein, denn genau hier haben wir die Verbindung von wissenschaftlicher Evidenz und Sachlichkeit mit moralischen Appellen: Es heisst, wenn ihr die Social-Distancing-Massnahmen oder Maskentragpflicht nicht einhaltet, wird das für das gesellschaftliche Kollektiv nachteilige Folgen haben und dazu führen, dass wir die Krise nicht in den Griff kriegen. Der Diskurs im Zusammenhang mit Covid-19 zeigt die verschiedenen Ebenen der Diskussion – Evidenz, Sachlichkeit –, aber eben auch eine Dringlichkeit auf der emotionalen Ebene sehr schön auf. 

 

Mark Eisenegger, Professor für Kommunikationswissenschaft, Direktor des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög)
Milo Puhan, Professor für Epidemiologie und Public Health, Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention

Das Interview ist im UZH Journal 3/2020 erschienen

 

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