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Autobiografien

Im Netz der Geschichten

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf sein Leben zurückzublicken. Wer eine Autobiografie schreiben möchte, kann das auf meet-my-life.net tun. Gestern wurden in der Aula mehrere dieser Arbeiten prämiert.
Marita Fuchs
Kinder beim Spiel
Kindheitserinnerungen sind Stoff für Autobiografien. (Bild: Ludwig, Jürgen Bundesarchiv)

 

Ljiljana Pospisek erhielt gestern in der Aula den ersten Preis des Autobiographie-Awards. Die Auszeichnung bekam die Schweizerin mit serbischen Wurzeln für ihre bildreiche Sprache und den Mut, ihr Immigrantenschicksal zu erzählen. Pospisek hat auf der Plattform meet-my-life ihre Autobiografie veröffentlicht. Ihr Text ist noch nicht fertig, sie arbeitet weiter daran, fügt Kapitel an Kapitel.

Meet-my-life ist nicht kommerziell und wird von Erich Bohli, ehemaliger CEO der Dipl. Ing. Fust AG, mit eigenem Geld und Beiträgen von Sponsoren betrieben. Die Vergabe der Awards fand in diesem Jahr zum zweiten Mal statt und sei hoffentlich der Beginn einer langen Tradition, sagte Bohli zu Beginn der Veranstaltung. Er erntete daraufhin fröhlichen Applaus der zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer, darunter viele aus der älteren Generation und viele, die selbst auf der Plattform ihr Leben in Worte fassen. Die Preisverleihung sei aber kein indirektes Schlechtreden aller anderen Texte, denn alle Autobiografien der Plattform seien wertvoll, betonte Bohli. Als Ehrengast hatte er den Schriftsteller und Kabarettisten Franz Hohler zur Veranstaltung eingeladen.

Umfassender Blick

Zurzeit sind 238 Autobiographien in Arbeit und davon 116 veröffentlicht, 57 Autobiographien sind abgeschlossen. Hinter den Texten stehen Menschen, die den Wunsch verspüren, ihr Leben zu erzählen. Anders als auf Facebook ist das Schreiben einer Lebensgeschichte nicht auf den Moment ausgerichtet. Der Blick sei umfassender, sagte Sandro Zanetti, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, der zu den Juroren gehört und durch die Veranstaltung führte. Eine Autobiografie beschreibt, was einmal war, was prägend war und was man für sich und für andere für wichtig erachtet. Spätestens mit der Entscheidung, das Festgehaltene zu veröffentlichen, öffnen sich die Geschichten den Lesern und Leserinnen gegenüber.

Viel über die Schweiz erfahren

Die Juroren Sandro Zanetti, Alfred Messerli und Peter O. Büttner hatten sich über Weihnachten und Neujahr in die Lektüre von 50 Beiträgen vertieft. Messerli ist Professor am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft, Büttner arbeitet an demselben Institut.

Schnell sei ihnen klar geworden, dass die Autobiografie «Flieder und Krokodil» von Ljiljana Pospisek, herausragend sei, sagte Zanetti. Zusätzlich wurden drei weitere Autorinnen und Autoren mit Preisen ausgezeichnet. (siehe Kasten)

Das Lesen der 50 Texte sei eine bereichernde Erfahrung gewesen, so Zanetti. Er habe viel über die Schweiz der Nachkriegszeit gelernt: ein Land, in dem Verdingkindern Unrecht angetan wurde, in dem unerbittliche Eltern, besonders Väter, die Kinder mit harter Hand erzogen. Er habe Einblick in die tiefverankerte Prägung vieler Menschen durch ihre Konfession erhalten und viel über die Wirtschaft der Nachkriegszeit erfahren, über Schicksalsschläge, familiäre Prägungen – und nicht zuletzt darüber, wie es war, ohne Internet und Smartphones zu leben.

Kaltes Badewasser

Lese man viele der Autobiografien, so zeigten sich Bezüge zwischen den einzelnen Texten, sagte Zanetti. In vielen Geschichten werden ähnliche Situationen geschildert, etwa Badeszenen. In der Nachkriegszeit war der Warmwasservorrat beschränkt, und so badeten in einer Wanne zuerst die Eltern, dann die Kinder. Das Wasser war dann nicht mehr heiss und auch der Schaum kaum sichtbar.

Wertvoller Kulturschatz

Aber was an den Geschichten ist nun wahr und was unwahr? Wo beginnt beim Erzählen die Verfälschung? Er habe nie den Eindruck bekommen, dass jemand seine Vergangenheit bewusst falsch darstelle, sagte Zanetti. Lediglich zwischendurch und ganz selten habe jemand sich in ein betont gutes Licht gestellt. Viele Autorinnen und Autoren zeigten dagegen Mut zur kritischen Selbstdarstellung. Alfred Messerli sieht insbesondere für Historiker und Kulturwissenschaftler die Lebensgeschichten auf meet-my-life als interessante Quelle und historischen Kulturschatz.

 

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