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Politologie

Welt aus den Fugen

Die Politologin Stefanie Walter erforscht das aktuelle politische Geschehen. Und sie mischt sich in die Debatten ein. Auch über die Zukunft Europas, die ihr Sorge bereitet.
Simona Ryser
Politologin Stefanie Walter erforscht das aktuelle politische Geschehen: «Populisten versprechen phantastische Scheinlösungen. Das macht sie attraktiv.»
Politologin Stefanie Walter erforscht das aktuelle politische Geschehen: «Populisten versprechen phantastische Scheinlösungen. Das macht sie attraktiv.» (Bild: Philipp Rohner)

 

Die vife Zwölfjährige sass vor dem Fernseher und schaute die 20-Uhr-Tagesschau der ARD. Die Extraviertelstunde vor dem Zubettgehen hatte sie sich ausbedungen. Was sie da sah, brannte sich in ihr Gedächtnis ein: Der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher zerschneidet im Dezember 1989 zusammen mit seinem tschechischen Amtskollegen Jiri Dienstbier medienwirksam den Zaun zwischen der BRD und der Tschechoslowakei. Der Eiserne Vorhang fällt, wie kurz zuvor die Berliner Mauer. Deutschland wird wiedervereinigt, Europa wächst zusammen.

Schnell denken

Das ist fast dreissig Jahre her. Doch die Erfahrungen von damals haben Stefanie Walter geprägt, ihre Neugier für politische Ereignisse und Zusammenhänge entfacht. Heute erforscht die Professorin für Politikwissenschaft an der UZH das Zeitgeschehen, das sie damals am Fernsehen verfolgte: Globalisierung, Eurokrise, Offshoring, Brexit, Populismus, Rechtsrutsch. Das Europa, das sich damals daranmachte, zusammenzufinden, ist aus den Fugen geraten, genauso wie die Weltordnung der Nachkriegszeit. Was da gerade passiert und wohin der Weg gehen könnte, analysiert die gefragte Professorin.

Morgens radelt sie jeweils los zu ihrem Büro hinter den Gleisen des Bahnhofs Oerlikon. Jetzt setzt sie sich an den Sitzungstisch und überlegt – allerdings nicht lange. Die Politologin denkt schnell und sie redet schnell: Nein, ihr Elternhaus war nicht explizit politisch. Stefanie Walter ist in der Nähe von Stuttgart mit drei jüngeren Schwestern aufgewachsen, der Vater war Arzt, die Mutter Hausfrau. «Eigentlich», erinnert sie sich, «wollte ich etwas Richtiges studieren wie Jus oder Betriebswirtschaftslehre.» Doch nach der Schule, bevor es mit dem Ernst des Lebens so richtig losging, besuchte sie eine Brieffreundin in Kanada. Sie lacht verschmitzt. In Montreal studierte sie ein Jahr lang Economics and Political Science. «Da hat es mir den Ärmel reingezogen.» Zurück in Deutschland fand sie an der Universität Konstanz mit Verwaltungswissenschaft und Volkswirtschaftslehre eine ähnliche Fächerkombination. Bis heute ist es die Verbindung von Ökonomie und Politik, die sie fasziniert.

Die Folgen des Brexit

Der Zusammenhalt der EU, einst als Friedensprojekt gegründet, das Stabilität stiften sollte, bröckelt. Die Politikwissenschaftlerin, die auch Stiftungsrätin im Schweizerischen Nationalfonds ist, untersucht die Gründe dafür. «Der europäische Grundkonsens, dass Demokratie und internationale Kooperation friedens- und wohlstandsfördernd sind, wird heute in Frage gestellt», sagt sie. Die erstarkten populistischen Kräfte haben den Alleingang einzelner Staaten denkbar gemacht.

Dieser Trend, für den auch Trumps America-first-Politik steht, zeigt sich exemplarisch am Brexit, erklärt Walter. Sie interessiert sich dafür, wie sich der Austritt Grossbritanniens auf die anderen 27 EU-Staaten auswirkt. In einer breit angelegten Studie, die mit einem ERC Consolidator Grant unterstützt wird, befragt sie regelmässig EU-Bürger zu ihrer Meinung. Was geht in ihren Köpfen vor? Besteht die Gefahr eines Dominoeffekts? «Generell ist die Zustimmung zur EU seit den Brexit-Verhandlungen gestiegen», sagt Walter. Doch wenn der Brexit für Grossbritannien allzu positiv verlaufen sollte, könnte das die Zustimmung für einen EU-Austritt des eigenen Landes befeuern. Auch in der Schweiz wird es spannend, die Frage der Desintegration stellt sich ganz konkret: Die Begrenzungsinitiative der SVP, die die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU verlangt, wird zu einer Abstimmung über die bilateralen Abkommen mit der EU.

Was auf dem Spiel steht

Die eloquente Forscherin, die mit Mann und zwei Kindern in Zürich Wipkingen lebt, tritt auf vielen Bühnen auf: Auf Podien, in Gesprächsrunden und in den Medien sind ihre Kommentare zum aktuellen Geschehen gefragt. Walter sieht das als Teil ihrer Arbeit, mit der sie zu informierten Meinungsbildung beitragen will. «Als Politikwissenschaftlerin fühle ich mich verpflichtet, zu erklären, was auf dem Spiel steht.»

Ist sie Optimistin oder Pessimistin? Walter seufzt. Von ihrem Naturell her sei sie eigentlich eine Optimistin. Das Aber bleibt im Raum hängen. «Ich bin mir nicht sicher, ob die heranwachsende Generation in einem so friedlichen und stabilen Europa leben wird, wie uns das vergönnt war.» Zuweilen scheine es so, als sei das historische Bewusstsein verloren gegangen: «Die Schrecken des Krieges geraten in Vergessenheit.» Frieden und Stabilität in Europa seien selbstverständlich geworden. Sind sie aber nicht. Walter will «den Teufel nicht an die Wand malen», doch wo die national und rechtspopulistischen Regierungen den Nationalstaat wieder in den Vordergrund rücken, flammen auch Konflikte auf, wie das Beispiel des Streits zwischen Österreich und Italien um den Doppelpass im Südtirol zeigt.

Der Preis des Alleingangs

Gibt es überhaupt eine ernsthafte Alternative zur EU? «Die traditionellen Parteien verneinen das», erklärt Walter, «während die Populisten phantastische Scheinlösungen versprechen – das macht sie attraktiv.» Natürlich gebe es die Alternative des Alleingangs. Doch sie muss auch ehrlich durchleuchtet sein. «Alternativen haben Vor-, aber auch Nachteile», sagt die Politologin. Ein Staat, der sich aus Kooperationen lösen will, muss sich fragen, welchen Preis er dafür zu bezahlen bereit ist. Auf welche von der EU ausgehandelten Vorteile wie zum Beispiel die Forschungsförderung, die Börsenäquivalenz oder Ausnahmeregeln bei Stahlzöllen ist er bereit zu verzichten? «Ein EU-Staat gibt einen Teil der nationalen Souveränität zugunsten der Zusammenarbeit auf», sagt Walter. Doch dafür bekommt er auch etwas: Frieden, Stabilität, Wohlstand.

Die quirlige Professorin wird unruhig. Es ist Zeit, sie muss ihr Seminar vorbereiten – die Studierenden sollen dereinst fit sein fürs Debattieren über die politischen Herausforderungen der Zeit.

Weiterführende Informationen

UZH Magazin

Dieser Artikel stammt aus dem UZH Magazin 4/18.