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Podium mit Peter von Matt

Die Magie antiker Dichtkunst

Manche Gedichte sind uralt und wirken doch frisch wie am ersten Tag. Die Wucht ihrer unmittelbaren Wirkung sei ein grosses Rätsel, sagt Peter von Matt. Er war zu Gast an einem kurzweiligen Podiumsgespräch mit dem Titel «Antike als akute Erfahrung».
David Werner
Christoph Riedweg, Professor für klassische Philologie an der UZH, im Gespräch mit dem Germanisten Peter von Matt (links).

 

Christoph Riedweg, Gastgeber des Abends, stellte den Germanisten und emeritierten UZH-Professor Peter von Matt als «einen der Grossen» der Philosophischen Fakultät und einen der profiliertesten Intellektuellen der Schweiz vor. Mit seinem «typisch innerschweizerischen Schalk» verstehe er es, ein grosses Publikum für seine Themen zu begeistern. Von Matts Bücher seien längst Klassiker der Literaturwissenschaft. Die griechische und römische Dichtung spiele darin stets eine bedeutende Rolle – so auch in seinem neuesten Werk «Sieben Küsse – Glück und Unglück in der Literatur».

Erfahrung gegenwärtiger Vergangenheit

Was für ihn die «akute Erfahrung der Antike» ausmacht, veranschaulichte Peter von Matt auf dem Podium, indem er eine Tonscherbe aus der Tasche zog, die ihm als Kind geschenkt worden war: ein unscheinbares Fundstück aus dem einstigen römischen Militärstützpunkt Vindonissa. Mehr als die Prägung auf der Vorderseite, so erzählte er, habe ihn die Rückseite in Bann gezogen. Sie zeigt einen Handabdruck, den der Hersteller des Objekts zufällig darauf hinterliess. Diese Erfahrung gegenwärtiger Vergangenheit beim Anblick der im Ton verewigten individuellen Lebenslinien sei ihm als Kind «tief eingefahren». So tief, dass er sich noch heute lebhaft an diesen Moment erinnere.

In Analogie zum Handabdruck auf der Tonscherbe beschrieb von Matt antike Gedichte als magische Kontaktstellen, die weit voneinander entfernte Epochen miteinander verbinden. Wie die Erfahrung unmittelbarer Präsenz einer längst verflossenen Zeit zustande komme, sei ein ungelöstes und vielleicht unauflösbares Rätsel. Fest stehe immerhin, dass Leserinnen und Leser daran genauso beteiligt seien wie das Gedicht selbst.

Kraft der Übersetzungen

Die Probe aufs Exempel machte von Matt anhand von Gedichten und Werkpassagen der griechischen Lyrikerin Sappho, des römischen Dichters Catull sowie der Epiker Homer und Hesiod. Dabei fand er immer wieder Gelegenheit, davon zu erzählen, wie antike Originaldichtungen spätere Dichter zu Übersetzungen und Nachdichtungen anregten, und wie dabei neue Werke entstanden, in denen sich die Zeitebenen unmittelbar berühren.

Übersetzungen und Nachdichtungen minderten die Wucht der «akuten Erfahrung der Antike» keineswegs, ganz im Gegenteil, sagte von Matt. Dass bestimmte Gedichte von Epoche zu Epoche, von Kulturraum zu Kulturraum und von Sprache zu Sprache weitergereicht und dabei variiert und überformt würden, steigere ihre Faszinationskraft.

Als ein Beispiel nannte von Matt unter anderem Eduard Mörikes Übertragung von Catulls berühmtem «Kussgedicht», das sich um die Zahl der Küsse dreht, die ein Geliebter mit seiner Geliebten tauscht. Die deutsche Übersetzung des lateinischen Originals sei in ihrer schwebenden Leichtigkeit «ein vollkommenes Mörike-Gedicht und zugleich ein vollkommenes antikes Gedicht».

Inspiration und Transpiration

Im Zusammenhang mit der Theogonie, dem Welterklärungs-Epos des Griechen Hesiod, kamen Riedweg und von Matt auf das Thema der dichterischen Inspiration zu sprechen. Warum werden im Leben der Dichter wie in der ganzen Literaturgeschichte die oft kurzen fruchtbaren Phasen immer wieder durch lange Durststrecken unterbrochen? Warum ist das Gelingen grosser Dichtung so unberechenbar? Der Streit darüber begleite die gesamte Literaturgeschichte, sagte von Matt. Hesiod habe diese Debatte gleich zu Beginn der Verschriftlichung der Literatur losgetreten, indem er in seiner Theogonie die These aufstellte, Dichtkunst sei ein Geschenk der Musen. Platon habe diese Theorie variiert, indem er den kreativen Prozess der Dichtung als eine positive Form des Wahnsinns und der Raserei darstellte.

Als prominenten Vertreter der Gegenseite nannte von Matt den römischen Dichter Horaz, der in seiner Ars poetica gegen den Geniekult und den Verrücktheitszwang in der Dichtung wetterte. Für Horaz sei ein guter Text das Ergebnis unermüdlicher Arbeit gewesen. Peter von Matt selbst ergriff am Schluss der Veranstaltung eindeutig Partei in diesem Streit. «Neunzig Prozent Transpiration nützen nichts, wenn zehn Prozent Inspiration fehlen», sagte er.