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Gescholten und missbraucht

Ehemalige Verdingkinder tragen schwer an ihrem Schicksal. Der Psychotraumatologe Andreas Maercker hat untersucht, wie es ihnen heute geht. Für sein Engagement zugunsten psychisch traumatisierter Menschen erhielt er vom deutschen Botschafter in Bern einen Bundesverdienstorden.
Katja Rauch
Verdingkinder
Verdingkinder damals, doch wie geht es ihnen heute? Die Aufnahme von Paul Senn (hier ein Ausschnitt) ist in der Wanderausstellung «Enfances Volées» zu sehen.

«Wir waren neun Geschwister. Unser Vater war Alkoholiker und unsere Mutter kümmerte sich oft alleine um uns, bis die Behörden einschritten und wir Kinder von ihr getrennt wurden. Die jüngsten vier kamen ins Waisenhaus. Wenn ich zurückdenke, wie wir erzogen wurden, kommen mir die Tränen. Es waren die Ingenbohler Schwestern, die uns in brutalster Art misshandelten. Sie haben mir, weil ich Bettnässer war, den Kopf mehrmals unter den Wasserhahn gedrückt bis fast zum Ertrinken. 1946, statt die Schule zu besuchen, wurde ich bei einem Grossbauern verdingt. Ich war 13 Jahre alt. Der Bauer schlug mich nie, aber ich war überfordert. Jeden Tag musste ich von vier Uhr früh bis 22 Uhr abends schuften. Schliesslich war ich so abgemagert, dass sie mich für einige Wochen ins Spital verlegten. Im Dezember konnte ich das Spital verlassen.»

Dies ist die typische Erinnerung eines einstigen Verdingkindes. Nach Schätzungen wurden Hunderttausende von Schweizer Kindern auf diese Art bis in die 1970er-Jahre aus ihren Familien gerissen, in Heime gesteckt und zur Arbeit auf Bauernhöfen gezwungen. Entwurzelt, vernachlässigt und voller Heimweh, so wuchsen praktisch alle diese jungen Menschen auf. 80 Prozent von ihnen berichten von bewusster emotionaler Gewalt. 67 Prozent haben körperliche Misshandlungen erlebt, wurden mit Gürteln oder Teppichklopfern geschlagen oder mit Bügeleisen verbrannt. 52 Prozent erfuhren sexuelle Gewalt, Buben ebenso wie Mädchen.

Albträume, Angst und Panik

Inzwischen sind die Jahrzehnte vergangen, die ehemaligen Verdingkinder sind älter geworden. Die Jüngsten unter ihnen sind um die 50, die Ältesten, die noch leben, hochbetagt. Bis heute werden die meisten noch immer vom langen Schatten ihrer traumatischen Vergangenheit verfolgt. Dies geht aus einer gross angelegten Studie unter Leitung des Traumatologen Andreas Maercker hervor. Der UZH-Professor für Psychopathologie befragt mit seinem Team seit 2010 ehemalige Verdingkinder dazu, was sie erlebt haben und wie es ihnen heute geht.

Die Ergebnisse sind nicht ganz überraschend, aber dennoch erschütternd. Ein Viertel der vormaligen Verdingkinder leidet unter Depressionen. Sie erleben sich als gleichgültig, freudlos oder denken gar an Suizid. Rund ein weiteres Viertel zeigt Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Die Betroffenen werden von Albträumen und Flashbacks heimgesucht – ständig wiederkehrenden und unentrinnbaren Erinnerungen –, erleiden Angst oder Panik.

Wahrscheinlich zeigt dieser bedrückende Befund sogar noch ein positiv verzerrtes Bild. Denn wer über die schrecklichen Geschehnisse seiner Kindheit sprechen kann, hat ein Stück weit schon Erleichterung erfahren. «Darüber reden zu können, ist ein wichtiger Faktor für Resilienz», erklärt Andreas Maercker, also für die seelische Verarbeitung und Gesundung nach dem erlittenen Trauma. Viele schaffen das, wenn überhaupt, nur mit grösster Mühe. Psychologin Keti Simmen-Janevska erinnert sich an eine Frau, die in einem Interview für die Studie zum ersten Mal einem anderen Menschen offenbarte, dass sie ein Verdingkind gewesen war. Selbst ihre Tochter hatte nichts davon gewusst. «Ich habe sehr viel Trauer erlebt in den Gesprächen mit diesen alten Menschen», sagt Keti Simmen, «auch grosse Scham und sehr viele Schuldgefühle.»

«Miserable Väter und Mütter»

Die Erfahrungen, die Verdingkinder gemacht haben, sind sehr unterschiedlich. Sie beeinflussen auch ihren weiteren Lebensweg, wie das Beispiel zweier Schwestern zeigt, mit denen Simmen-Janevska gesprochen hat. Das eine Mädchen wurde von einer Ostschweizer Familie aufgenommen und durfte eine Ausbildung machen. Ihr Leben danach verlief durchaus erfreulich. Ganz anders war die Situation ihrer Schwester. Sie verschlug es ins Berner Oberland,  wo sie Opfer von sexueller Gewalt wurde. Das hinterliess Spuren: Sie war in ihrem späteren Leben viel belasteter und auch kognitiv eingeschränkter als ihre Schwester.

Wie die Befragungsergebnisse insgesamt zeigen, tragen jene ehemaligen Verdingkinder, die besonders Schlimmes erlebt haben und bis heute unter einer Traumafolgestörung leiden, tatsächlich auch ein erhöhtes Risiko für einen beschleunigten kognitiven Abbau im Alter. Ein wichtiger Grund dafür ist die Motivation, die unter dem Trauma zusammengebrochen ist. Die Motivation zu lernen etwa, und dabei auch einmal eine Durststrecke durchzustehen. Die Motivation, die Zukunft zu planen, und dafür Energie und Zeit einzusetzen. «Wer etwas Derartiges überlebt hat, hat das Gefühl, planen sei zwecklos, es könne immer wieder etwas Schlimmes passieren», erklärt Psychotraumatologe Andreas Maercker. Dieses Gefühl begleitet viele bis zum Lebensende. So bleibt der Aufbau von kognitiven Ressourcen, die erwiesenermassen als Schutzfaktor gegen Demenz wirken können, leicht auf der Strecke. Ganz abgesehen davon, dass den allermeisten Verdingkindern eine gute Schulbildung verwehrt war.

Der lange Schatten der traumatischen Vergangenheit reicht sogar über das eigene Leben der ehemaligen Verdingkinder hinaus – bis zu ihren Kindern. Viele der Interviewten bezeichneten sich als ganz miserable Mütter oder Väter, mit grossen Schwierigkeiten, eine gute Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Nach der Befragung ihrer heute rund 50-jährigen Nachkommen hellte sich dieses Bild immerhin etwas auf. Zwar pflegten ehemalige Verdingkinder einen unangenehmeren Erziehungsstil als andere Eltern, aber keineswegs so stark, wie sie selber glaubten. Vor allem die Mütter bestraften ihre Kinder häufiger als andere Eltern, während sich die Väter distanzierter und emotional unbeteiligter verhielten.

UZH-Professor Andreas Maercker (l.) erhielt am 3. Februar aus den Händen von Otto Lampe, dem deutschen Botschafter in Bern, das Verdienstkreuz am Bande des Bundesverdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
UZH-Professor Andreas Maercker (l.) erhielt am 3. Februar aus den Händen von Otto Lampe, dem deutschen Botschafter in Bern, das Verdienstkreuz am Bande des Bundesverdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Verpfuschtes Leben

Einige ehemalige Verdingkinder haben es trotz widrigsten Startbedingungen geschafft, in ihrem Leben Fuss zu fassen. Für die Forschenden der Zürcher Verdingkinderstudie war es ein Lichtblick, auch solchen Menschen zu begegnen. Die Mehrzahl jedoch trägt ein Leben lang schwer an den psychischen Folgen ihrer schwierigen Kindheit. Wenn diese Menschen nun mit 80 oder 90 zurückblicken, haben viele das Gefühl, ihr Leben sei verpfuscht.

Im April 2013 bat Justizministerin Simonetta Sommaruga die ehemaligen Verdingkinder öffentlich im Namen der Schweizer Regierung um Entschuldigung für das begangene Unrecht. Seit Beginn dieses Jahres können die Betroffenen zudem endlich eine finanzielle Entschädigung für das erlittene Leid beantragen. Doch kommt das Alles nicht viel zu spät? «Ganz viele sind schon gestorben und die Übrigen haben sich mit psychischen Krankheiten durch ihr Leben gequält», räumt Andreas Maercker ein. Trotzdem hält der Psychotraumatologe die öffentliche Bestätigung immer noch für wertvoll. Denn wie schon aus anderen geschichtlichen Zusammenhängen bekannt ist: Wird das Leid einer einer Gruppe von Opfern öffentlich anerkannt, hat dies positive Auswirkungen auf die psychische Widerstandskraft der Betroffenen.