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Digitalisierung

«Globales Hirn»

Die Digitalisierung beschleunigt die Wissenschaft und verändert die Forschung. Abraham Bernstein und Michael Hengartner über die digitale Revolution und die Rolle der UZH.
Interview: Roger Nickl und Thomas Gull

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«Im digitalen Raum findet der Wettbewerb der Ideen permanent und global statt»: Abraham Bernstein (links) und Michael Hengartner diskutieren Potenziale der Digitalisierung.

Abraham Bernstein, Michael Hengartner,
 die Digitalisierung hat im Eiltempo in unserem Alltag Einzug gehalten. Wie revolutionieren Computer, Internet und soziale Medien unser Leben heute und in Zukunft?

Abraham Bernstein: Die Digitalisierung ermöglicht, dass wir zu jeder Zeit an jedem Ort mit jedem und jeder kommunizieren können. Das führt zu einer räumlichen und zeitlichen Entgrenzung. Hinzu kommt, dass es immer billiger wird, Daten zu sammeln und zu verarbeiten. Wir können heute Informationen auf völlig neue Arten speichern und analysieren. So entstehen ganz neue Möglichkeiten: Systeme der künstlichen Intelligenz beispielsweise können uns helfen, Entscheidungen zu treffen oder Forscherteams können rund um die Uhr auf dem ganzen Erdball verteilt arbeiten. Wir werden ganz neue Arten entdecken, wie wir uns koordinieren, wie wir zusammenarbeiten und wie wir kommunizieren.

Was heisst das konkret?

Bernstein: Die Demokratie zum Beispiel wurde zu einer Zeit erfunden, als das schnellste Mittel zur Informationsübermittlung das Pferd war. Das ist ein Grund dafür, dass wir immer noch auf Papier abstimmen. Heute wäre es dagegen technisch möglich, dass eine Million Menschen in eine Nationalratsdebatte eingreifen und sich mittels sozialer Medien etwa zu einer Gesetzesvorlage äussern könnten. Das könnte den demokratischen Prozess völlig verändern.

Michael Hengartner: Auch das tägliche Leben verändert sich massiv. Das sehe ich bei meinen Töchtern. Sie tauschen sich viel intensiver mit ihren Freundinnen und Freunden aus, die Kommunikation findet aber ausschliesslich im virtuellen Raum statt. In meiner Jugend war ich oft bei Freunden zu Besuch oder sie waren bei mir. Das geschieht heute bei meinen Töchtern viel weniger.

Was bedeutet die digitale Revolution für die Wissenschaft?

Bernstein: Die Verfügbarkeit von immer mehr Daten wird zur Folge haben, dass Forschende immer häufiger Fragen stellen, die sie mit bereits existierenden Datensätzen zu beantworten versuchen. Wissenschaft wird auch zunehmend von Maschinen gemacht werden. In der Hefe-Forschung gibt es Geräte, die selber Hypothesen aufstellen und anschliessend ein Experiment dazu durchführen. Auch in der Statistik existieren Programme, die Daten auswerten und neue Theorien entwerfen, die sie dann gleich überprüfen. Weil die Kommunikation einfacher wird, werde auch die Bürgerwissenschaft, die Citizen Science, wichtiger: Wissenschaftler können das Wissen und die Daten von Laien aus der ganzen Welt in ihre Forschung einbeziehen. Um die Citizen Science zu fördern und weiterzuentwickeln, gründet die UZH gemeinsam mit der ETH Zürich ein Citizen Science Center.

Was passiert mit den Wissenschaftlern, wenn die Maschine alles macht – werden sie bald überflüssig?

Hengartner: Nein, aber sie müssen sich weiter- bilden. Die datengetriebene Forschung muss auch in der Ausbildung und im Studium eine wichtigere Rolle spielen. Heute sollten Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wissen, wie man mit grossen Datensätzen umgeht. Auch in der Biologie wird zunehmend quantitativ gearbeitet. Damit entstehen neue Arten des Analysierens. Das ist natürlich total spannend und beschleunigt die Forschung.

Sie, Herr Bernstein, haben die Vision
 eines globalen Hirns, eines «Global Brain», das die Digitalisierung ermöglicht. Was steckt hinter diesem Gedanken?

Bernstein: Durch die Zusammenarbeit im digitalen Raum findet der Wettbewerb der Ideen nicht nur lokal und zeitlich beschränkt, sondern permanent und global statt. Es gibt digitale Netzwerke von Menschen, die sich zu ganz unterschiedlichen Themen Gedanken machen. Dazu gehören Wissenschaftler, aber auch Laien. Hinzu kommen Computer und Systeme der künstlichen Intelligenz, die auch ihre Beiträge machen. Alle diese Prozessoren interagieren miteinander. Wenn sie dabei erfolgreich sind, können dadurch unerwartete Ideen und Problemlösungen entstehen.

Zum Beispiel?

Bernstein: Die New Yorker Stadtregierung hat sich überlegt, wie sie die Luftverschmutzung reduzieren kann. Dazu wurden online Vorschläge gesucht, über die Bürgerinnen und Bürger dann abstimmen konnten. So kam eine Liste zustande, auf der erwartbare Ideen zu finden waren – etwa vermehrt Katalysatoren einzusetzen oder auto- freie Sonntage einzuführen – aber auch unerwartete. Zum Beispiel der Vorschlag, man müsste den Kreuzfahrtschiffen rund um Manhattan einen Stromanschluss geben. Denn diese Schiffe verbrennen unglaublich schmutziges Öl in riesigen Mengen und generieren damit Strom. Wenn man nun diesen Schiffen einen Stromanschluss gibt, kann man damit die Schadstoffemission stärker reduzieren, als wenn man sehr viele Autos mit Katalysatoren ausrüstet. Das ist eine einfache, aber geniale Idee, auf die man zuerst kommen muss. Solche Ideen können durch kollektive Intelligenz entstehen, die die digitalen Medien ermöglichen.

Funktionieren die digitalen Medien in der Biologie auch als Ideengenerator, Herr Hengartner?

Hengartner: Ja, ein gutes Beispiel dafür ist die Präzisionsmedizin. Man versucht Patienten eine massgeschneiderte Therapie zu ermöglichen, indem man eine möglichst präzise Diagnose stellt. Auf Grund einer solchen Diagnosen und der individuellen körperlichen Voraussetzungen des Patienten kann dann die ideale Behandlung bestimmt werden. Wir wissen heute, dass beispielsweise jeder Brustkrebs mehr oder weniger einzigartig ist. Heute können wir das Genom sequenzieren und das Proteom messen. Die Analyse dieser Daten gibt uns Hinweise darüber, welche Antikörper wirksam sein könnten. Das heisst, die Suche nach einer wirkungsvollen Therapie wird wesentlich einfacher und schneller. Damit steigt die Erfolgsrate und wir können Behandlungskosten senken.

«Wir müssen uns genau überlegen, was die Studienabgänger von morgen wissen sollten», sagt Abraham Bernstein (links) im Gespräch mit Michael Hengartner.

Wird es künftig in der Biologie Forschende geben, die nur noch im Labor stehen und experimentieren, und solche, die Datensätze analysieren?

Hengartner: Das ist schon heute so. Viele Bioinformatiker sitzen ausschliesslich vor dem Computer und arbeiten mit Daten, die andere generiert haben. Die meisten Bioinformatiker haben wenig bis gar keine Laborerfahrung. Diese Spezialisierung auf die datenbasierte Forschung ist mittlerweile überall in der Wissenschaft zu finden.

Was bedeutet das für die Ausbildung?

Hengartner: Das Studium sollte zu Beginn breit ausgelegt werden, danach muss man sich spezialisieren. Eine breite Grundausbildung soll die Basis dafür legen, dass sich Vertreter von verwandten Disziplinen auch später noch gegenseitig verstehen. Ein Bioinformatiker muss wissen, wie die experimentelle Forschung im Labor funktioniert. Eine Experimentatorin wiederum muss die Qualität von Daten beurteilen können und wissen, was die Stärken und Schwächen eines Datensatzes sind. Was der Bioinformatiker macht, darf für sie nicht zum Voodoo werden.

Bernstein: Wir müssen uns genau überlegen, was die Studienabgänger von morgen wissen sollten. Vor 100 Jahren musste jeder Wissenschaftler Latein können. Wir müssen uns nun fragen, was das Latein von heute ist. Sicherlich müssen Forschende und Studierende mit Daten umgehen können. Sie müssen verstehen, dass jeder Datensatz einen Bias, das heisst eine gewisse Ausrichtung hat, sonst machen sie Fehler bei der Interpretation. Und sie sollten mit Wahrscheinlichkeiten umgehen können. Heutige DNA-Tests treffen schliesslich auch nicht zu 100 Prozent zu.

Wird das Programmieren zum neuen Latein
 der Wissenschaft und damit selbstverständlicher Teil des Studiums?

Bernstein: Studierende müssen sicher ein Gefühl für Daten und ein Verständnis für die virtuelle Welt entwickeln, sonst können sie keine Wissenschaft betreiben. Es muss nicht das ganze Studium umgestellt werden, doch gewisse Bereiche müssen ergänzt werden. Das passiert bereits, wenn wir etwa daran denken, dass in vielen Studienrichtungen Statistik zur Grundausbildung gehört. Das gilt mittlerweile auch für die Psychologie oder die Sprachwissenschaften.

Die Digitalisierung wird unser Leben, aber auch die Wissenschaft grundlegend verändern. Wie kann die Gesellschaft auf die digitale Revolution reagieren?

Hengartner: Als wissenschaftliches und wirtschaftliches Zentrum der Schweiz muss sich der Kanton Zürich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen. Der UZH kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Die Universität Zürich verfügt bereits über breites, interdisziplinäres Know-how in diesem Bereich. Indem wir dieses Wissen bündeln und weiter ausbauen, können wir den Prozess der Digitalisierung breit erforschen und innovativ mitgestalten. Die UZH hat deshalb die Digital Society Initiative (DSI) lanciert und sie will ein Digital Society Center schaffen. Damit sollen Kompetenzen, die an der UZH auf diesem Gebiet vorhanden sind, konzentriert werden. So können wir dazu beitragen, dass der Standort Zürich für neue Herausforderungen gerüstet ist und sich nachhaltig als führendes Zentrum für digitale Innovation etablieren kann.

Bernstein: Zentral ist, dass die UZH sich mit den Wechselwirkungen von Digitalisierung und Gesellschaft auseinandersetzt. Denn die Digitalisierung ist nicht in erster Linie eine technische Entwicklung, sondern es geht um die Frage, wie wir Technik einsetzen. Sie betrifft Gesellschaft und Wirtschaft gleichermassen. Die Technologie wird von sozialen Prozessen getrieben. Was da passiert, wollen wir erforschen. Andererseits müssen wir darüber nachdenken, welche Herausforderungen mit der Digitalisierung auf die Gesellschaft zukommen und wie wir uns für diese Entwicklungen wappnen müssen.

Welches sind die Stärken der UZH, wenn es darum geht, die Digitalisierung zu erforschen?

Hengartner: Für uns steht die Breite des Wissens im Vordergrund, das an der UZH vorhanden ist und das zu ganz neuen Einsichten und Perspektiven führen kann, wenn es zusammengebracht wird. Die UZH als vielfältigste Universität der Schweiz ist dazu ideal geschaffen. Das breite Wissen und die Interdisziplinarität, die die UZH mitbringt, sind ganz zentral, will man die Digitalisierung erforschen. So kann beispielsweise kein Informatiker die Frage beantworten, was es bedeutet, wenn Computer künftig unsere Arbeit machen. Der Standort Zürich soll spürbar gestärkt werden. Im Vordergrund steht dabei, die Kompetenzen der Bevölkerung sicherzustellen. Wir wollen in die Ausbildung investieren, die interdisziplinäre Innovation fördern, Zukunftsszenarien partizipativ entwickeln und geeignete Rahmenbedingungen schaffen.

Bernstein: Der UZH ist es in den vergangenen Jahren mit dem «Wyss Translational Center Zurich» in der Medizin und dem «UBS International Center of Economics in Society» bereits gelungen grosse, unabhängige Forschungszentren mit internationaler Ausstrahlung und grosser Innovationskraft zu schaffen. Etwas Vergleichbares wollen wir mit dem geplanten Digital Society Center (DSC) erreichen, um so auf die tiefgreifenden Veränderungen zu reagieren, die mit der Digitalisierung einhergehen.

Was ist konkret geplant?

Hengartner: Wir wollen neue Professuren und Forschungsgruppen in datenintensiven Disziplinen und für datenintensive Forschungs- und Lehrmethoden schaffen. Zudem wollen wir Innovationsforschungsgruppen etablieren. Bildung und Forschung sollen gemeinsam und interdisziplinär entwickelt werden. Wichtig ist auch, hervorragende Nachwuchsforschende zu rekrutieren, die sich gemeinsam mit Forschern aus anderen Diziplinen mit den Folgen des digitalen Wandels beschäftigen.

Kann die UZH diese Aufgabe allein stemmen?

Hengartner: Wir wollen eine Vorreiterrolle übernehmen, werden aber selbstverständlich mit Partnern und anderen Hochschulen zusammenarbeiten, wenn sich dazu Gelegenheit bietet. Das Digital Society Center soll sich künftig zu einer Werkstätte für zukunftsgerichtete Ideen mit hohem praktischem Nutzwert entwickeln. Die UZH will dafür eigene Mittel einsetzen, ist aber auf zusätzliche finanzielle Unterstützung von Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen. Ich bin aber überzeugt, dass das geplante Zentrum einen Mehrwert für Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft generieren wird.

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