Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Philosophie für die Polis

Im Dienst des bonum commune

Welche Denkanstösse kann uns die antike Kultur geben? Gilt Aristoteles' Definition für ein gelungenes Leben auch noch für uns? Christoph Riedweg, Professor für Klassische Philologie und Gräzistik an der UZH, leitet den fünften internationalen Kongress der Gesellschaft für antike Philosophie. Im Interview mit UZH News erklärt er, worum es geht.
Marita Fuchs
«Im antiken Griechenland nutzten die Sophisten rhetorische Instrumente, die auch heutige Populisten von Berlusconi bis Putin virtuos einsetzen»: Christoph Riedweg, Professor für Klassische Philologie und Gräzistik an der UZH.

Herr Riedweg, dem antiken Stadtstaat, der Polis, widmen Sie einen grossen Kongress. Warum gerade der Polis?

Der Kongress ist nicht nur antiken Stadtstaaten gewidmet, sondern der gesamten 'poli-tischen' Philosophie der Antike. Deren Anfänge liegen schon bei Homer, den Vorsokratikern, den ersten Historikern, der Sophistik und dem – sich zunächst in der griechischen Polis entfaltenden – klassischen Drama. Doch antikes Nachdenken über Gemeinschaft und die richtigen politischen Rahmenbedingungen für gelingendes Leben schliessen viele andere Formen politischer Organisation mit ein: das Weltreich eines Alexanders des Grossen und das – die moderne Globalisierung vorwegnehmende – Imperium romanum ebenso wie oligarchische, autokratische und tyrannische Machtstrukturen. Dazu werden wir an dem Kongress viel Neues erfahren.

Ist es nicht erstaunlich, dass Platon und Aristoteles, dessen 2400. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, heute noch so stark präsent sind?

Auf Platons und Aristoteles' monumentalem Œuvre basieren die hellenistische und die römische Philosophie, die uns bis heute prägen. Zu nennen sind insbesondere die Stoa und der Epikureismus sowie ihr Einfluss auf bekannte und einflussreiche Denker und Herrscher wie Cicero, Seneca oder Kaiser Mark Aurel. Auch die frühchristliche Tradition wie etwa Augustinus' Civitas dei greift auf Platon und Aristoteles zurück. Das spätantike Denken wurde dann in der arabischen Welt begierig aufgegriffen und den eigenen Bedürfnissen angepasst. Über die politische Philosophie in der islamischen Welt wird am Kongress Ulrich Rudolph, Islamwissenschaftler an der UZH, den Schlussvortrag halten.

Prägt uns das Politikverständnis der griechischen Antike auch heute noch?

Sehr sogar. Perikles zum Beispiel galt als Ideal eines umfassend gebildeten Staatsmannes. Seine berühmte Leichenrede beeinflusste die Rhetorik der amerikanischen Präsidenten von Abraham Lincoln bis zu Barack Obama.

Ganz allgemein lässt sich die Bedeutung der griechisch-römischen Tradition für die Gegenwart allein schon an der Vielzahl antiker Begriffe ablesen, die bis heute den politischen Diskurs bestimmen. So zum Beispiel das Wort «Politik» selbst, also die politikè téchne, sozusagen das handwerkliche Können der Führung eines Gemeinwesens. Davon abgeleitet ist der/die Politiker/in, die politische Philosophie, die Realpolitik oder auch die Politikverdrossenheit.

Auch Wörter wie Demo-kratie, Olig-archie, Pluto-kratie, Dem-agogie, Tyrannis, Despotie, Hegemon, Republik, Senat, ebenfalls Citoyen (cives), Populismus und viele andere mehr lassen sich auf die griechisch-römische Antike zurückführen.

Zudem liefert uns das antike Denken ein unglaubliches Reservoir an Einsichten, gedanklichen Anregungen und Fallbeispielen, die zum Vergleichen und Nachdenken einladen. So wurde bereits vor mehr als 2400 Jahren darüber diskutiert, wo für ein Gemeinwesen die gerade noch erträgliche Differenz zwischen den Reichsten und den Ärmsten liegt.

Und wenn man die Polis als ein noch überschaubares Ganzes fasst, fällt mir das Stichwort Subsidiarität ein. So wie damals wird idealerweise auch heute so viel Verantwortung wie möglich an kleine, überschaubare Einheiten delegiert, weil nur dort sach- und bedürfnisangemessen und insofern 'gerecht' gehandelt werden kann, während zentral nur die unabdingbaren Rahmenbedingungen geregelt werden sollten.

Das antike Athen war seiner Zeit weit voraus. Zwar lebten dort Sklaven, doch sonst war der Staat demokratisch organisiert. Wie war das möglich?

Demokratie entwickelte sich in Athen dank glücklicher Umstände. Einer davon ist der Sieg gegen die Perser mit einer anschliessenden Phase des Wohlstands. Die Demokratie wurde im 5. Jh. v. Chr. zu einem Modell, das bis heute als – freilich oft idealisierte – Projektionsfläche sehr wichtig bleibt.

Und doch geriet die athenische Demokratie unter dem Druck des brutalen Bürgerkriegs mit Sparta im letzten Drittel des 5. Jh. aus den Fugen.

Dieser Peloponnesische Krieg führte zu einem zunehmenden Verlust, ja sogar einem regelrechten Kollaps des gesellschaftlichen Wertesystems. Interessanterweise spielte dabei eine Bewegung eine Rolle, die in manchem an Phänomene der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erinnert. Es waren die sogenannten Sophisten, die von der Allmacht der Rede und der Kommunikation überzeugt waren; sie boten als PR-Experten und Politberater der reichen athenischen Elite gegen Entgelt ihre Dienste an. Vergleichen könnte man die Sophisten mit modernen Consultants à la McKinsey. Als Spezialisten des Wortes und der Affektbewirtschaftung vermittelten sie Techniken zur Manipulation der Zuhörerschaft. Mit dieser emotionalen Steuerung sicherten sie ihren Schülern Erfolg in Politik (Volksversammlung) sowie vor Gericht, indem sie etwa ausgeklügelte rhetorische Strategien entwarfen, um die zahlreichen Laiengeschworenen zu beeinflussen.

Dann sind die Sophisten vergleichbar mit den Propagandisten und Populisten von heute?

Die Sophistik hatte einen 'postmodernen' philosophischen Hintergrund: Anti-Essenzialismus, epistemologischer Relativismus und Ablehnung der Referentialität von Sprache. Es sind dies Instrumente, die auch heutige Populisten von Berlusconi bis Putin virtuos einsetzen.

Sokrates hat die Problematik schnell erkannt. Er übte Kritik an den Sophisten und beklagte das Spiel mit der Vieldeutigkeit und die Manipulierung der Sprache zum eigenen Vorteil. Sokrates bestand dagegen auf bedingungsloser Orientierung an dem – in anstrengender dialogischer Suche zu ermittelnden – Guten und Schönen. Das Bemühen um 'wahre' Gerechtigkeit, auch in eschatologischer Perspektive, die Sorge um die eigene Seele und das Erlangen von Tugendwissen waren für ihn essentiell.

Wir alle wünschen uns ein gutes Leben. Welche Denkanstösse erhalten wir persönlich aus dem antiken Denken?

Wir erfahren, dass das Materielle, Reichtum, Genussmaximierung und platter Hedonismus nicht alles sind. Um ein gutes Leben zu führen, sollten wir unser Handeln an Werten wie der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl orientieren und uns dabei stets der ausserordentlichen Fragilität des menschlichen Glücks bewusst bleiben. In dieser Perspektive betonten die antiken Denker die Achtung gegenüber allen Menschen, insbesondere auch Fremden gegenüber – nicht umsonst stand die Gastfreundschaft unter dem Patronat des höchsten Gottes Zeus.

Spezifisch sokratisch-platonisch und dann auch aristotelisch ist die Befürwortung eines intensiven Studiums aller Wissenschaften: Nur wer umfassend über die Welt und den Menschen sowie über die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens als solche reflektiert hat, ist zu verantwortlichem politischem Handeln befähigt. Geleitet wird diese Philosophie überdies von der fundamentalen Erkenntnis, dass derjenige, der anderen Unrecht antut, zu allererst sich selbst  – seiner 'Seele' – enormen Schaden zufügt.

An einem Kongress spiegeln sich in der Regel die aktuellen Trends eines Fachgebietes. Welche sind es in der Altphilologie?

Klassische Philologie steht in selbstverständlichem Austausch mit den anderen Geisteswissenschaften und kann sich auch den gesellschaftlichen Veränderungen nicht entziehen. Eine gewisse Abkehr von postmoderner methodischer Akrobatik hin zu den «basics», die nicht zuletzt auch solide philologisch-editorische Arbeit am Text miteinschliesst, scheint mir zunehmend spürbar.

Dies geht jedoch keinesfalls mit dem Verlust einer kulturhistorischen Gesamtperspektive einher, ist es doch für die Klassische Philologie seit langem selbstverständlich, dass Texte ohne Berücksichtigung der bildlichen Überlieferung, der Realien sowie soziologischer und religionshistorischer Aspekte nicht angemessen erschlossen werden können.