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Kinderchirurgie

Griff in die Schöpfungskammer

Die Operation eines ungeborenen Kindes im Mutterleib ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Über die Voraussetzungen und Risiken des Eingriffs gab der Kinderchirurg Professor Martin Meuli in einem Referat Auskunft. 
Magdalena Seebauer
Operierte 2010 als erster Arzt in Europa einen Fötus im Mutterleib: Kinderchirurg Martin Meuli. (Bild: Max Gassmann)

Martin Meuli ist ein Pionier in seinem Fach. Im Jahr 2010 operierte der Direktor der Klinik für Kinderchirurgie am Kinderspital Zürich als erster Arzt in Europa einen Fötus im Mutterleib. Dass er damit in bisher unbetretenes Terrain vorstösst, dessen ist er sich bewusst: «Was wir machen, gleicht einem Griff in die Schöpfungskammer.»

Ihren Anfang nahm diese jüngste und Aufsehen erregende chirurgische Disziplin im Jahr 1981, als Michael R. Harrison in San Francisco erstmals eine offene Operation eines Ungeborenen vornahm, das an einem Verschluss der Harnröhre litt.

Rückenmark liegt frei

Heute kommt eine Operation am Fötus hauptsächlich bei der Spina bifida, dem sogenannten offenen Rücken, zur Anwendung. Diese Fehlbildung entsteht am Ende des ersten Schwangerschaftsmonats, wenn sich die Neuralplatte zu einem Rohr verschliesst. Bleibt dies an bestimmten Stellen aus, liegt dort das Rückenmark frei. Während der nachfolgenden acht Monate der Schwangerschaft wird dieses äusserst empfindliche Gewebe durch die Reibung an der Gebärmutterwand mechanisch geschädigt. Daneben hat auch der Kontakt mit dem Fruchtwasser und den darin enthaltenen Substanzen einen ungünstigen Einfluss.

«Der Schaden, der sekundär während der Schwangerschaft entsteht, ist das grosse Problem», erklärte Meuli vergangene Woche in seinem Referat im Rahmen der Veranstaltungsreihe Wissen-schaf(f)t Wissen des Zürcher Zentrums für Integrative Humanphysiologie.

Bisher 19 Operationen in Zürich

Statistisch gesehen tritt die Fehlbildung Spina bifida bei einem von tausend Kindern auf. Viele davon erblicken jedoch gar nie das Licht der Welt, da die Schwangerschaft vorzeitig abgebrochen wird.

Bisher wurde ein offener Rücken immer kurz nach der Geburt operativ abgedeckt. Dennoch haben viele Kinder massive Gehbehinderungen oder sind gar zeitlebens auf den Rollstuhl angewiesen. Die Kontrolle über Blase und Darm ist stark eingeschränkt. Häufig tritt auch eine Störung des Abflusses der Hirnflüssigkeit auf. Der daraus entstehende Wasserkopf führt meist zu einer geistigen Entwicklungsstörung.

Damit es nicht zu diesen irreversiblen Schäden kommt, operiert Meuli den Fötus schon im Mutterleib. Die bisher neunzehn in Zürich durchgeführten Operationen zeigen, dass die Patienten klar profitieren. Die motorischen Einschränkungen sind wesentlich geringer – die Kinder lernen oft selbständig zu laufen. Auch die geistige Entwicklung verläuft meist vielversprechend. Einzig bei der Inkontinenz sind die Resultate nicht so deutlich. Auch im Vergleich zu bisher über hundert in den USA operierten Kindern können sich die Zürcher Resultate sehen lassen.

«Wir können die Kinder nicht vollständig heilen», betonte Meuli. Die Verbesserungen seien jedoch so offensichtlich, dass die vorgeburtliche Operation als neuer Behandlungsstandard zu gelten habe.

Mit dem Skalpell am Fötus

Meist wird der Eingriff um die 23. Schwangerschaftswoche durchgeführt. Unter Vollnarkose für Mutter und Kind wird die mütterliche Bauchhöhle eröffnet. Mit Ultraschall legt man den exakten Ort für den Schnitt in die Gebärmutter fest, denn ein Verletzen der Plazenta hätte sofortige tödliche Folgen für das Kind. Am Fötus wird das freiliegende Rückenmark zu einem Rohr geformt und Schritt für Schritt mit Hirnhäuten, Muskel, Bindegewebe und Haut umgeben. Damit wird die natürliche Anatomie rekonstruiert. Danach wird die Gebärmutter kräftig vernäht. Schliesslich muss sie dem starken Wachstum in den folgenden Wochen standhalten. Käme es zu einem Riss, würde das für Mutter und Kind akute Lebensgefahr bedeuten.

Für die komplexe Operation braucht es ein interdisziplinäres Team von Geburtshelfern, Neonatologinnen, Kinderchirurgen, Anästhesistinnen und technischen Operationsassistenten. «Die enge Zusammenarbeit mit der Frauenklinik am Universitätsspital Zürich schafft für uns eine einzigartige Situation», so Meuli. Zusammen mit dem grossen Engagement und Pioniergeist des Kinderchirurgen ermöglichte das die Entstehung eines europaweit führenden Zentrums für fötale Diagnostik und Chirurgie in Zürich.

Ethisch vertretbar

Dennoch stellt sich die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, eine gesunde Frau einer Operation zu unterziehen. Meuli antwortete mit einem klaren Ja. Wie bei der Lebendspende eines Organs oder eines Teils eines Organs erwachse dadurch einer anderen Person ein grosser Nutzen.

Selbstverständlich muss die Mutter über die Risiken der Operation vollständig aufgeklärt werden und ihre Zustimmung geben. Eine der grössten Gefahren ist, dass Wehen und damit eine Frühgeburt ausgelöst werden. Wenn beim Fötus gleichzeitig weitere schwerwiegende Fehlbildungen vorliegen oder wenn eine Mehrlingsschwangerschaft vorliegt, ist eine vorgeburtliche Operation zu riskant und wird nicht durchgeführt.

Zukünftige Entwicklungen

In der Fragerunde wollten die Zuhörerinnen und Zuhörer unter anderem wissen, welche Weiterentwicklungen der Referent erwartet. Meuli geht davon aus, dass sich die Operation zur Routinebehandlung bei Spina bifida entwickelt. Man werde vielleicht versuchen, noch etwas früher zu operieren und durch künstlich erzeugtes Gewebe das verletzliche Rückenmark noch besser und stabiler zu überdecken. Möglicherweise werden auch minimal-invasive Operationstechniken Einzug halten. In Deutschland wurde dies schon gemacht, doch bisher zeigte die Schlüssellochchirurgie keine überzeugenden Resultate.

Am wichtigsten bleibt jedoch die Prävention. Eine ausreichende Einnahme von Folsäure schon vor der Empfängnis kann einen Grossteil der Fälle verhindern. So sehr die Chirurgie Meulis Leidenschaft ist – es wäre ihm lieber, der Griff in die Schöpfungskammer wäre gar nicht notwendig.