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Wenn die Migration auf die Seele drückt

Die Psychiatrische Universitätsklinik verfügt über eine Akutstation, die ihren Schwerpunkt auf die Behandlung von Migrantinnen und Migranten legt. unipublic hat sich mit Oberarzt Rafael Traber und der Ethnopsychologin Heidi Schär Sall über die dort angewandte «transkulturelle Psychiatrie» unterhalten.
Adrian Ritter

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Migrantinnen und Migranten haben häufig spezifische psychische Probleme, beispielsweise Traumatisierungen aufgrund von Krieg und Flucht. Im Bild: Flüchtlinge aus dem Kosovo warten auf dem Flughafen Zürich auf ihren Flug nach Skopje. Sie kehren freiwillig in den Kosovo zurück (1998/1999). 

unipublic: Warum brauchen Migrantinnen und Migranten spezifische psychiatrische Angebote?

Traber: In der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) haben ungefähr 50 Prozent der Patientinnen und Patienten einen Migrationshintergrund. Diverse Studien in der Schweiz und im Ausland haben gezeigt, dass diese Personengruppe häufig gesundheitlich weniger umfassend behandelt wird. Im Vergleich zur restlichen Bevölkerung werden ihre psychischen Probleme später erkannt, in der Psychiatrie führen die Betreuungspersonen weniger Gespräche mit ihnen, hingegen erhalten sie mehr Medikamente und werden früher wieder entlassen.

Schär Sall: Deshalb lancierte das Bundesamt für Gesundheit 2005 das Pilotprojekt «Migrant friendly hospitals». Es hat zum Ziel, dass Migrantinnen und Migranten dieselben Chancen haben beim Zugang zum Gesundheitswesen und bezüglich der Qualität der Behandlung. Die PUK wandelte als Teil dieses Projektes die Akutstation A1 zu einer Station mit dem Schwerpunkt Migration um. In der Psychiatrie in der Deutschschweiz sind wir unseres Wissens die Einzigen mit einem solchen Angebot. Die Station war zuerst ein Pilotprojekt und gehört seit Oktober 2006 zum regulären Angebot der PUK.

Inwiefern unterscheiden sich Migranten hinsichtlich ihrer psychischen Probleme?

Traber: Sie haben häufig spezifische psychische Probleme, die mit der Migration zusammenhängen, Traumatisierungen aufgrund von Krieg und Flucht beispielsweise.

Schär Sall: Gleichzeitig macht ihnen die Situation in der neuen Umgebung zu schaffen. Sie erleben beispielsweise, dass sie nicht integriert sind. Gleichzeitig spüren sie den Druck und vielleicht auch den Wunsch, sich zu integrieren. Oft leiden Migranten auch unter ihrem unsicheren Aufenthaltsstatus, prekären ökonomischen Verhältnissen und unter sozialer Isolation. Mit all diesen Belastungen sind Migrantinnen und Migranten häufig verletzlicher bezüglich psychischer Störungen.

Was ist nun unter transkultureller Psychiatrie zu verstehen?

Schär Sall: Zunächst einmal bedeutet transkulturelle Psychiatrie nicht, möglichst viel Wissen verfügbar zu haben über so genannt fremde Kulturen oder Religionen. Sonst besteht die Gefahr des «Kulturalisierens», dass also ein Verhalten nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur erklärt wird. Es geht darum, gemeinsam mit dem Patienten dessen Problematik zu verstehen.

Globalisierung und Migration führen dazu, dass wir in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bezügen leben. Unsere Patientinnen und Patienten sind dabei doppelt fremd. Einerseits bezüglich der psychischen Störung, andererseits bringen sie aufgrund der Migration vielfältigere Lebenskontexte mit als andere Patienten. Die transkulturelle Psychiatrie versucht hier als qualitative sozialwissenschaftliche Methode zum Verstehen beizutragen. Sie bewegt sich dabei an der Schnittstelle von Psychologie, Psychiatrie und Ethnologie.

Rafael Traber und Heidi Schär Sall versuchen in der Psychiatrischen Universitätsklinik mit «transkultureller Psychiatrie» den spezifischen Bedürfnissen von Migrantinnen und Migranten besser gerecht zu werden.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Schär Sall: Das Verstehen geschieht vor allem über das gemeinsame Gespräch zwischen Patient, Psychiater, Ethnopsychologin, pflegerischen Bezugspersonen und allenfalls auch Angehörigen des Patienten. Wir hatten beispielsweise einen jugendlichen Patienten mit einer schweren psychischen Störung. Er war nicht in der Lage, für sich selber zu sorgen und zeigte selbstschädigendes Verhalten.  Dies löste bei seiner Familie wie auch beim Personal Angst aus.

Seine Mutter erklärte, die Krankheit ihres Sohnes sei auf Parasiten zurückzuführen und müsse mit einer bestimmten Ernährung behandelt werden. Es war dies eine im Herkunftsland populäre Erklärung. Im Gespräch erwies sie sich jedoch vielmehr als Abwehrreaktion der Mutter, eine Verharmlosung durch eine kulturelle Erklärung.

Im Laufe der Gespräche gelang es der Mutter, solche Wahrnehmungen zu erkennen und zu verstehen. Dies ermöglichte es ihr in der Folge, ihren Sohn und seine Bedürfnisse wirklich wahrzunehmen. Zusammen mit der übrigen psychiatrischen Behandlung wirkte sich dies positiv auf seinen Gesundheitszustand aus und führte zu einer Beruhigung der Situation. In der Folge verschwand das selbstschädigende Verhalten fast ganz.

Transkulturelle Psychiatrie funktioniert also?

Traber: Unsere bisherigen Erfahrungen sind sehr gut. Einerseits fühlen sich die Patienten gemäss Rückmeldungen in den Gesprächen oft zum ersten Mal verstanden. Gleichzeitig erleben wir auch, dass sich durch die neue Akutstation in der PUK die Einstellung zu Migranten verändert. Man begegnet ihnen vermehrt mit Interesse, anstelle von Zurückhaltung oder gar Angst und Ablehnung.

Das Projekt hat ausserdem dazu beigetragen, ein Bewusstsein zu schaffen, wie wichtig Dolmetscherinnen und Dolmetscher in der psychiatrischen Arbeit sind. Dies hat dazu geführt, dass es in der PUK jetzt möglich ist, in grösserem Umfang als bisher für diagnostische Abklärungen und Therapien professionelle Dolmetscher beizuziehen.

Wie sieht die Zukunft der spezifischen Arbeit mit Migranten in der PUK aus?

Traber: Nach der Etablierung unseres stationären Angebotes wird es in Zukunft darum gehen, die ambulante Nachbetreuung zu optimieren. Wir werden eine Evaluation bestehender Angebote durchführen und allenfalls auch neue Dienstleistungen anbieten. Wichtig ist auch, dass wir unser Wissen und unsere Erfahrungen an Fachpersonen und Therapeuten innerhalb wie ausserhalb der PUK weitergeben. Wir bieten schon jetzt verschiedene Formen des Erfahrungsaustausches und der Weiterbildung an.