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Tibetischer Buddismus

300'000 Seiten heilige Texte in Zürich zu bestaunen

Eine buchstäblich gewichtige Schenkung durfte das Völkerkundemuseum der Universität Zürich am Samstag in Empfang nehmen: eine 200-bändige Ausgabe der kanonischen Texte des tibetischen Buddhismus. Es ist die vollständigste Edition, die je erarbeitet wurde.
Sascha Renner

Monumentales Editionswerk: 200 Bände enthalten den gesamten Kanon des heiligen, tibetisch-buddhistischen Schrifttums.

Sprachenvielfalt letzten Samstag im Völkerkundemuseum: In zügigem Chinesisch richtete Direktorin Mareile Flitsch einige Grussworte an die Anwesenden. Darauf folgten einführende Worte auf Deutsch und zwei längere Referate auf Tibetisch.

Anlass war eine Schenkung, die sich im Ausstellungssaal nebenan befand: ein Buch, oder besser, ein monumentales Editionswerk, bestehend aus 200 dicken Bänden. Die golden gefassten, auf rotem Grund und in Tibetisch beschrifteten Bände reihen sich während zehn Tagen entlang der Wände des Saals. Dort können sie zu den Öffnungszeiten des Museums besichtigt werden. Danach verschwinden sie in der Bibliothek des Völkerkundemuseums, wo sie künftig Interessierten zur Verfügung stehen.

Materiell fassbare Form des Erleuchteten

Die 200 Bände stellen den gesamten Kanon des heiligen, tibetisch-buddhistischen Schrifttums dar. Sie werden in allen Lehrtraditionen als autoritativ anerkannt. Welchen Stellenwert die heiligen Texte für die Gläubigen haben, weiss Martina Wernsdörfer aus eigener Anschauung.

Wie die künftige Asienkuratorin am Völkerkundemuseum berichtete, ziehen die Bücher den Blick des Besuchers eines tibetischen Klosters umgehend auf sich: «In der Haupthalle jedes Klosters stehen zwei hohe Stelzenregale. Beim rituellen Umkreisen des Buddhabildes gehen die Pilger gebückt unter den Büchern hindurch. Sie erweisen ihnen so die Ehre.» Die heiligen Texte gelten den Gläubigen als eine materiell fassbare Form des Erleuchteten.

Die Sammlung unterteilt sich in zwei Korpusse, den Kanjur (die Worte Buddhas) und den Tanjur (die Kommentare zu Buddhas Worten).

Editionsprojekt nach 21 Jahren abgeschlossen

Wie Wernsdörfer ausführte, unterscheidet sich der tibetische Kanon an einem zentralen Punkt von denjenigen der grossen vorderorientalischen Religionen: Das tibetisch-buddhistische Kanonverständnis ist ein offenes – es gibt verschiedene, voneinander abweichende Editionen und nicht einen unveränderbaren, fixierten Textbestand. Der Kanon ist so nie abgeschlossen und erweitert sich laufend, wenn sich Buddha und andere Heilige erneut inkarnieren und predigen.

Eine möglichst vollständige und gültige Ausgabe zu schaffen, war das Ziel eines neuen Editionsprojekts, das nun nach 21 Jahren zum Abschluss kam.

Noch nie so viele Editionen abgeglichen

Am chinesischen Forschungszentrum für Tibetologie in Peking arbeiteten über hundert Tibetologen – zur Hälfte Tibeter, zur Hälfte Han-Chinesen – an der neuen Edition. Noch nie wurden dafür so viele unterschiedliche Editionen abgeglichen: Beim Kanjur wurden sieben, beim Tanjur drei weitere Fassungen zum Vergleich und zur Ergänzung herangezogen.

Direktorin Mareile Flitsch (r.): «Die Bände sind für die Tibetologie, die Indologie und die Buddhismusforschung von erheblichem Wert».

Druck- und Schreibfehler wurden korrigiert, Aufbau und Struktur der Texte vereinheitlicht und alle Schriften aufgenommen, auch solche, die nur in einer Version vorhanden waren. So liegt nun mit 300’000 Seiten die bisher vollständigste Sammlung des tibetisch-buddhistischen Kanons vor.

Die Schenkung ist Ausdruck der guten wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Direktorin Mareile Flitsch und dem chinesischen Forschungszentrum für Tibetologie. Sie hat aber auch einen ganz konkreten Anlass: Sie ist der Dank für ein prachtvolles tibetisch-buddhistisches Pantheon, das das Völkerkundemuseum dem Forschungszentrum vordem zur kostenlosen Reproduktion für eine wissenschaftliche Publikation überlassen hatte.

Worin aber liegt der Wert von Kanjur und Tanjur für die Universität? «Sie sind für die Tibetologie, die Indologie und die Buddhismusforschung von erheblichem Wert», erklärt Flitsch und verweist auf die weit gespannte und detailreiche Thematik der Textsammlung: Neben rein religiösen Schriften enthalte sie auch Abhandlungen zur Logik, Kunst, Medizin und über Lebensklugheit.

Tibet-Forschung in China kein Paradox

Die Sinologin und Ethnologin Mareile Flitsch widmet sich seit zwanzig Jahren intensiv der Erforschung Chinas, mit besonderem Augenmerk auf materielle Alltagskulturen und praktisches Wissen. Dass ein in der Volksrepublik China staatlich gefördertes Forschungszentrum die neue Edition verantwortet und sich der Erforschung der tibetischen Kultur widmet, stellt für sie kein Paradox dar.

«Die chinesische Nationalitäten- und Religionspolitik», so Flitsch, «ist eben viel komplexer, als dies hierzulande vielfach in der Presse vermittelt wird.» Natürlich gebe es in China eine Tibetproblematik. Doch die Edition des Kanjur und Tanjur zeige, dass man sich in China auch des buddhistisch-tibetischen Kulturerbes bewusst sei und sich bemühe, dieses zu bewahren.

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