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Semesterpreis

Juristische Detektivarbeit

Jus-Student Leander Etter wies per Datenanalyse nach, wie stark sich Sprachbarrieren auf die Arbeit des Schweizer Bundesgerichts auswirken. Für seine Masterarbeit erhielt er einen Semesterpreis.
Marita Fuchs

Studierende, die hervorragende Arbeiten geschrieben haben, werden von der UZH mit einem Semesterpreis ausgezeichnet. In einer Serie zeigen wir anhand einiger Beispiele, was eine gute Arbeit ausmacht, worin ihr didaktischer Nutzen besteht, was Studierende zu besonderen Leistungen motiviert und wie sie von Dozierenden unterstützt und betreut werden.

Semesterpreisträger Leander Etter in der Giacometti-Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, rechts im Bild die Büste des Zürcher Rechtsprofessors Zaccaria Giacometti. (Bilder: Diana Ulrich)

Das Schweizer Bundesgericht gibt jährlich zwischen 10’000 und 15’000 Entscheide heraus, im Jahr 2023 waren es etwa 13'000. Jus-Student Leander Etter verglich in seiner Masterarbeit rund 100‘000 Bundesgerichtsentscheide im Hinblick auf die Landessprache, in der sie verfasst wurden. Dabei beleuchtete er Aspekte der juristischen Praxis auf Bundesebene, die bisher in dieser Deutlichkeit nicht bekannt waren.

Ganz besonders interessierte Etter die Frage, in welcher Sprache die Rechtsurteile und die Literatur verfasst sind, die in den Bundesgerichtsurteilen zitiert werden. Zitate sind ein wichtiger Bestandteil der Urteilsbegründung und dienen dazu, die rechtliche Argumentation zu untermauern, Präzedenzfälle zu berücksichtigen und das Urteil im Kontext der bestehenden Rechtsprechung und Literatur zu verorten. Sein Betreuer war Tilmann Altwicker, Rechtsprofessor am Lehrstuhl für Legal Data Science und Öffentliches Recht. «Leander Etter ging akribisch wie ein Detektiv vor. Mit analytischer Präzision beleuchtete er Zusammenhänge, die bisher so nicht dokumentiert wurden», sagt Altwicker.

Landessprachen im Fokus

In der Schweiz werden Bundesgerichtsentscheide in der Regel in einer der vier Landessprachen verfasst: Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch. Die Wahl der Sprache hängt davon ab, in welchem Teil der Schweiz der Fall verhandelt wird, oder in welcher Sprache die Parteien ihre Eingaben getätigt haben. Etwa zwei Drittel aller Entscheide des Schweizerischen Bundesgerichts werden auf Deutsch verfasst, da die Verfahren ihren Ursprung in der Deutschschweiz haben. Entscheide in Französisch und Italienisch haben ihren Ursprung in den entsprechenden Sprachregionen. Rätoromanisch geschriebene Entscheide sind selten und kommen nur in sehr spezifischen Fällen vor.

Leander Etter ist im rätoromanischen Sprachraum aufgewachsen und spricht Rätoromanisch. Das habe ihn für sprachliche Belange sensibilisiert, sagt er. «Nach der Matur wusste ich zunächst nicht, was ich studieren sollte, ich schwankte zwischen Jus und Informatik und entschied mich schliesslich für Jus, weil ich auch an Sprache interessiert war». In seiner Masterarbeit im Bereich Legal Data Science flossen schliesslich all seine Interessen zusammen – jene am Recht, an der Informatik und an der Sprache. Die Auswirkungen der Landessprache auf die Rechtsprechung wurde bisher nur selten umfassend analysiert. «Ich fand dieses Thema besonders spannend und war froh, dass Professor Altwicker es unterstützte», erzählt Etter. Thema und Fragestellung der Arbeit schlug er selbst vor. «Leander Etter hat eine originelle Forschungsfrage gefunden, aber auch ein gutes Gespür dafür gezeigt, was man zeitlich im Rahmen einer Masterarbeit stemmen kann», sagt Altwicker.

Verborgene Muster erkennen

Leander Etter mit seinem Betreuer Tilmann Altwicker, Professor für Legal Data Science und Öffentliches Recht.

Die Forschungsrichtung «Legal Data Science» verfolgt das Ziel, mit dem Einsatz quantitativer Methoden Strukturen oder Muster in den Rechtsdaten aufzufinden und neue Zusammenhänge zu erkennen. «Meine Studierenden entwickeln automatisierte Verfahren, um Gerichtsentscheide zu klassifizieren, zu vergleichen oder sogar Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit von Urteilen zu treffen», erklärt Altwicker. Die nötigen Methoden der Datenanalyse erarbeitete sich Etter selbst – «das ist einer der Gründe für die Preiswürdigkeit dieser Arbeit», sagt der Rechtsprofessor.

Bundesgerichtsentscheide haben einen Umfang von 10 bis zu 40 Seiten. Erst seit dem Jahr 2000 werden sie digitalisiert. Etter konnte bei seiner Analyse auf ein etwa 100'000 Bundesgerichtsentscheide umfassendes Datenset des ehemaligen Doktoranden Florian Geering zurückgreifen.

Brisantes Ergebnis

Etter teilte die Entscheide des Bundesgerichts nach Sprachen ein und analysierte die Zitate mit datenwissenschaftlichen und statistischen Methoden. «Das Ergebnis ist brisant», sagt Altwicker. «Die Arbeit wirft ein kritisches Licht auf die Praxis des Bundesgerichts, indem sie zeigt, dass bei der Urteilsbegründung die Sprachgrenzen selten überschritten werden. Indem das Bundesgericht bei der Urteilsbegründung in einzelnen Sprachräumen verharrt, schmälert es seine argumentative Basis. Es wäre für die Qualität der Rechtspraxis besser, wenn das Bundesgericht für mehr Durchlässigkeit zwischen den Sprachräumen sorgen würde».

Neue Diskurse anstossen

Leander Etter arbeitete bereits vor seiner Masterarbeit als Hilfsassistent an Altwickers Lehrstuhl. Er war eingebunden in ein Team aus Jurist:innen, Informatiker:innen und Statistiker:innen und erfuhr dabei von allen Seiten viel Unterstützung. «Es ist diese interdisziplinäre Zusammenarbeit, die Legal Data Science so spannend macht», sagt er. Kurze Besprechungen über den Stand der Arbeit mit Tilmann Altwicker hätten ihm die nötige Sicherheit vermittelt, auf dem richtigen Weg zu sein.

«Als die ersten Ergebnisse sichtbar wurden, motivierte mich die Aussicht, mit meiner Arbeit einen echten Beitrag zum juristischen Diskurs leisten zu können», sagt Etter. Er hätte zudem gelernt, juristische Fragestellungen mit modernen Datenanalysetechniken zu verbinden. Für die Doktorarbeit, die er nach der Rechtsanwaltsprüfung plane, sei das eine gute Grundlage. In den letzten Jahren habe die Digitalisierung und die zunehmende Verfügbarkeit von grossen Datenmengen die Rechtswissenschaften stark beeinflusst, sagt Etter. «Dadurch eröffnen sich viele neue Forschungsfragen, zu deren Klärung ich in Zukunft gern etwas beitragen würde».