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Anthropologie

Ab in den Wald

Vor allem in Städten ist die Reizüberflutung gross. Wir sind dafür nicht gemacht, sagt Colin Shaw. Der Anthropologe untersucht aus evolutionärer Perspektive, welche Umgebungen uns gesundheitlich belasten und welche uns guttun.
Barbara Simpson
Mit seiner Forschungsgruppe Human Evolutionary EcoPhysiology untersucht Colin Shaw die Auswirkungen der Umgebung auf die Gesundheit. (Bild: Thousand Year Trust)

Es ist Ende Juli und – für diese Jahreszeit eher ungewöhnlich – es regnet heftig in Zürich. Ich sitze auf einem Klappstuhl unter dem breiten Blätterdach alter Buchen, zusätzlich geschützt von einem Regenschirm, und fühle mich geborgen und ruhig. Regentropfen prasseln gleichmässig auf den Waldboden, im Hintergrund zwitschern Vögel. Ich atme tief ein und lausche. Wie ein Trichter sammeln die Baumkronen das Wasser, das ihren Stämmen entlang zu Boden rinnt. Ein knorriges Wurzelgeflecht am Hang vor mir wirkt wie eine natürliche Umfriedung. «Wie war’s?», fragt eine Stimme.

Colin Shaw kommt auf mich zu, barfuss in Trekkingsandalen, in denen er die letzten Minuten im Regen gestanden ist. Zuvor hatte mir der Evolutionsanthropologe und Leiter der Forschungsgruppe Human Evolutionary EcoPhysiology (HEEP) eine Aufgabe gestellt: Wähle deinen Lieblingsplatz. Nimm die Umgebung wahr. Konzentriere dich Schritt für Schritt auf jeden einzelnen Sinn. Welche Geräusche hörst du? Was riechst du? Welche Bewegungen fallen dir auf?

Für die Wissenschaft im Dreck wühlen

Mit dieser Anleitung wollen wir ein Experiment nachstellen, das Shaw und sein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Ökologie, Immunologie, Mikrobiologie, Kognitionspsychologie und Bewegungswissenschaften im vergangenen Sommer durchgeführt haben. Dabei verbrachten 160 Personen drei Stunden jeweils an einem von drei Orten: im Sihlwald, einem Laubmischwald vor den Toren Zürichs; im Mont Tendre, einem Fichtenwald ausserhalb von Lausanne; und an der Hardbrücke, mitten in der Stadt Zürich. «Im Wald», erzählt Shaw lachend, «sind die Leute richtig dreckig geworden.»

Vor und nach ihren Aufenthalten massen die Forscher:innen bei den Teilnehmenden zahlreiche Biomarker in Blut und Speichel sowie die kognitiven Fähigkeiten. Was das Experiment deutlich machte: Die Teilnehmenden, die im Wald waren, zeigten einen deutlich niedrigeren Blutdruck, bessere Immunreaktionen und ein stabileres psychisches Befinden – in der Stadt hingegen stiegen Blutdruck sowie physiologische und psychologische Stressreaktionen spürbar an.

Das spüre ich auch ohne Messungen deutlich. Im Wald – der, wie Shaw betont, «unseren ursprünglichen Lebensbedingungen am nächsten kommt» – fühle ich mich ruhig, mein Puls ist regelmässig, der Stress fällt ab. Scherzhaft fügt er hinzu, der Regen habe vielleicht sogar die Verteilung von Phytonziden gefördert. Diese von Bäumen abgegebenen flüchtigen organischen Verbindungen stärken das Immunsystem – wie die japanische Praxis des «Shinrin-Yoku» (Waldbaden) nachgewiesen hat.

Entspannt? Gestresst? Klicken Sie auf die Markierungen und probieren Sie selber aus, wie die Bilder und Geräusche vom Rundgang unserer Reporterin mit Colin Shaw auf Sie wirken.

Überall Löwen

Das nächste Ziel unseres Rundgangs ist eine stark befahrene Kreuzung. Während wir einen kleinen Pfad entlanggehen und über herabgefallene Äste steigen, fasst Shaw seine zentrale Hypothese zusammen. Aus evolutionärer Sicht, sagt er, setzen uns industrialisierte, urbanisierte Lebensräume einer chronischen Stresslast aus, die Körper und Psyche schädigt. «Wir versuchen den evolutionären Kontext dazu zu verstehen: Macht uns unsere Umgebung krank – und welche Umgebung hilft uns, uns zu erholen?»

In einer kürzlich mit seinem Kollegen Daniel Longman von der britischen Loughborough University publizierten Studie argumentiert Shaw, dass die massiven Umweltveränderungen des Anthropozäns die evolutionäre Fitness des Menschen überfordern. Evolutionärer Erfolg misst sich in Überleben und Fortpflanzung – und beide Faktoren seien seit der industriellen Revolution vor rund 300 Jahren deutlich unter Druck geraten. Hinweise darauf sind weltweit sinkende Fertilitäts­raten und eine Zunahme chronischer Entzündungs­erkrankungen wie Autoimmun­leiden. Auch sind kognitive Einschränkungen in städtischen Umgebungen belegt. Chronischer Stress spielt als Ursache für viele dieser Erkrankungen eine wichtige Rolle.

«In unserem ursprünglichen Lebensraum waren wir gut darauf vorbereitet, akuten Stress zu bewältigen – fight or flight. Gelegentlich begegnete man einem Löwen, da musste man bereit sein, sich zu verteidigen oder davonzulaufen», erklärt Shaw. «Entscheidend ist, die Gefahr ist irgendwann vorbei, der Löwe ist weg. Die Reaktion sicherte das Überleben, war aber energieraubend und erforderte eine lange Erholungsphase.»

Die akute Stressreaktion mobilisierte Adrenalin und Cortisol. Das war ideal, während wir in unserer Vergangenheit als Jäger und Sammler um unser Überleben kämpften. Für die dauerhafte Reizflut des modernen Lebens ist sie jedoch ungeeignet. «Unser Körper reagiert, als wären alle Stressfaktoren Löwen», fährt Shaw fort, «sei es ein schwieriges Gespräch mit dem Partner, Druck von der Chefin oder lauter Verkehrslärm.»

Verborgene Kosten des Fortschritts

Das Wasser rauscht in den Rinnsteinen, während wir die Letzistrasse hinuntergehen. Der Verkehrslärm, vom Regen verstärkt, schwillt an. «Im Grunde ist es paradox: Einerseits haben wir in den letzten dreihundert Jahren enormen Wohlstand, hohen Komfort und eine gute Gesundheitsversorgung für viele Menschen auf der Welt geschaffen.» Shaw redet lauter, um einen grossen Lastwagen auf der Winterthurerstrasse zu übertönen. «Andererseits wirken sich manche der zivilisatorischen Errungenschaften sehr negativ auf unser Immunsystem, unsere kognitiven Fähigkeiten, unsere körperliche Verfassung und unsere Fortpflanzungsfähigkeit aus. Seit den 1950er-Jahren sind etwa Spermienzahl und -beweglichkeit bei Männern dramatisch gesunken – bedingt durch Pestizide und Herbizide in Lebensmitteln, aber auch durch Mikroplastik.»

Quote_Colin Shaw

Wir müssen unsere Städte richtig gestalten – und gleichzeitig Naturräume regenerieren, wertschätzen und mehr Zeit darin verbringen.

Colin Shaw
Anthropologe

An der Kreuzung zur Irchelstrasse angekommen, darf ich mir wieder aussuchen, wo ich meinen Klappstuhl aufstellen möchte. Instinktiv entscheide ich mich für eine Ecke, wo ich wenigstens das Grün des Irchel Campus der UZH im Rücken habe. Fünfzehn Minuten beobachte ich den Verkehr, der aus allen Richtungen heranrollt. Das ohrenbetäubende Gemisch aus Motorenlärm, aufspritzendem Wasser und Pressluftgehämmer verdrängt jeden klaren Gedanken. Mein Atem wird flacher, mein ganzer Körper verkrampft sich. Ich bin erleichtert, als mich Colin Shaw erlöst und wir in den Irchelpark weiterziehen. «Es bestand keine echte Gefahr, und doch habe ich die Zähne zusammengebissen», bemerkt er. «Es ist die ständige Reizüberflutung. Dafür sind wir nicht gemacht.»

Selbstverständlich sei Zürich im Vergleich zu Millionenmetropolen wie Tokio, Delhi und Schanghai «kaum eine richtige Stadt», räumt Shaw ein. «Sie ist von Wäldern umgeben, hat einen See und einen Fluss. Ausserdem ist der öffentliche Nahverkehr sehr gut ausgebaut.» Dennoch zeigen die Ergebnisse des HEEP-Teams klar: Selbst das Leben in einer Stadt, die regelmässig zu den lebenswertesten weltweit gezählt wird, ist physiologisch und psychologisch belastend und schwächt das Immunsystem.

Heute leben rund 4,5 Milliarden Menschen – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung – in urbanen Ballungsräumen. Bis 2050 wird diese Zahl voraussichtlich auf 6,5 Milliarden steigen, also mehr als zwei Drittel der Menschheit. Industrialisierung und Urbanisierung als Gesundheitsrisiken anzuerkennen, wird entscheidend sein, um die öffentliche Gesundheit zu sichern – oder, um einen evolutionären Begriff zu bemühen: die Fitness unserer Spezies.

Verhältnis zur Natur überdenken

Collage aus einem Bild mit Stadtverkehr im Regen und einer Waldlandschaft
Shaw plädiert dafür, die Natur als Gesundheitsfaktor ernst zu nehmen und Räume zu schützen, die unseren ursprünglichen Lebensbedingungen entsprechen. (Bild: Barbara Simpson)

Unser Gehirn hat zwar gelernt, mit ständigen Neuerungen klarzukommen – doch steckt es in der Regulierung unseres Nervensystems noch immer in der Urzeit. Warum haben wir uns nicht längst an die Lebensbedingungen angepasst, die wir selbst geschaffen haben? «Man könnte argumentieren, dass die heutigen Stressreaktionen eine Form der Anpassung darstellen. Allerdings verläuft biologische Anpassung sehr langsam. Genetische Veränderungen geschehen über viele Generationen – also in Zehntausenden bis Hunderttausenden von Jahren», erklärt Shaw. «Aus evolutionärer Sicht ist es natürliche Selektion, wenn Menschen an chronischem Stress oder stressbedingten Krankheiten sterben. Würde man dies über Hunderte von Generationen zulassen, wäre Homo sapiens vielleicht irgendwann in der Lage, mit chronischem Stress umzugehen.» Offensichtlich ist das keine praktikable Lösung für unser aktuelles physiologisches Dilemma.

Wenn unser Organismus chronischen Stress also nicht genügend abfedern kann – wie können wir trotzdem die gesundheitlichen Auswirkungen minimieren? Eine Lösung, so Shaw, liegt darin, unser Verhältnis zur Natur grundlegend zu überdenken: Das heisst, sie als Gesundheitsfaktor ernst zu nehmen und Räume zu schützen oder zu regenerieren, die eher unseren ursprünglichen Lebensbedingungen entsprechen. Eine andere Lösung sind gesündere Städte.

«Ich bin weder Ingenieur noch Architekt», sagt er, «aber unsere Forschung zeigt auf, welche Reize Blutdruck oder Herzfrequenz besonders beeinflussen – und diese Erkenntnisse geben wir an Entscheidungsträger:innen weiter.» Beide Ansätze seien eng miteinander verzahnt, betont er: «Wir müssen unsere Städte richtig gestalten – und gleichzeitig Naturräume regenerieren, wertschätzen und mehr Zeit darin verbringen.»

Wir sind zurück in seinem Büro mit Stehpult ohne Stuhl – ein kleiner rebellischer Akt gegen den heute verbreiteten sitzenden Lebensstil. «Als Evolutionsanthropologe habe ich mich früher mit Neandertalern und Knochenanpassung befasst, was faszinierend war», sagt Shaw. «Ich halte aber die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, für dringlicher. Diejenigen, die über die finanziellen oder intellektuellen Ressourcen verfügen, haben die Verantwortung, in die Lösung dieser Probleme zu investieren. Für mich ist es eine moralische Verpflichtung, das Richtige zu tun.»