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Zum Tee bei Salafisten

Mira Menzfeld trifft seit acht Jahren ultrakonservative Muslime. Da die allermeisten Salafisten friedliebend sind, sei das nicht gefährlich – für sie als Privatperson manchmal aber irritierend, sagt die Ethnologin.
Andreas Eberhard
Will das Bild des kampfbereiten Salafisten korrigieren: Ethnologin Mira Menzfeld.

 

Über Salafisten wird viel geredet. Meistens geht es dann um Terrorismus oder wie kürzlich in der Schweiz um die Frage, ob ein Gesichtsschleier die Würde einer Frau herabsetzt und darum verboten gehört. Weniger oft hört man Geschichten aus dem Alltag der Menschen, die diese besonders konservative Form des Islam leben.

Erzählen kann sie Mira Menzfeld, die seit acht Jahren regelmässig Salafistinnen und Salafisten trifft. Bis im vorletzten Sommer forschte die 32-jährige Ethnologin in Deutschland, ehe sie für einen Aufenthalt als Gastforscherin ans Religionswissenschaftliche Seminar der UZH kam. Hier möchte sie die Salafisten-Szene in der Deutschschweiz ausleuchten. Sie schätzt, dass diese in der Schweiz eine niedrige vierstellige Zahl ausmachen. «Feldforschung dazu ist noch rar.» Das sei auch ein Grund, weshalb so viele falsche Annahmen zu dieser Gruppe kursierten. Etwa, dass Salafismus eine Brutstätte für Terrorismus sei. «Es ist die absolute Ausnahme, dass jemand in die Dschihadisten-Szene abrutscht», sagt die Ethnologin dazu. «Die grosse Mehrheit hat zwar ein für mich manchmal eigenartiges Weltbild, lebt den Glauben aber nur für sich selbst.»

Leben wie im 7. Jahrhundert

Berichtet die 32-Jährige über ihre Erfahrungen mit den strenggläubigen Muslimen, stellt sich so manches Klischee auf den Kopf. Etwa das der unterdrückten Frau. Menzfeld erzählt die Geschichte des Salafisten mit Burnout. «Es begann damit, dass seine Frau den dringenden Wunsch hatte, streng nach den Regeln des Salafismus zu leben.» Dies bedeutet, zu leben wie die ersten Muslime vor rund 1400 Jahren – mit Sitten und Gebräuchen wie zu Zeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert. Denn Salafisten interpretieren den Koran buchstabengetreu und lehnen jegliche moderne Interpretation ab. Das hiess für den Mann, dass er seine Frau rundum versorgen musste, weil diese zuhause bleiben musste. Arbeiten, einkaufen, die Kinder aus dem Kindergarten holen: Dem Mann wurde das alles irgendwann zu viel. Als die Frau ihn auch noch aufforderte, eine Zweitfrau zu nehmen, um ihr beim Putzen zu helfen, vertraute sich der überforderte Mann seinem Imam an. Der sagte nur: «Deine Frau hat recht.» Schliesslich wandte er sich an eine psychologische Beratungsstelle.

«Ich hoffe, die beiden haben sich wieder gefunden», sagt Menzfeld, die sich ein Lächeln nicht verkneifen kann. So manches, was ihr in den vielen Gesprächen von Salafisten erzählt wird, deckt sich nicht mit ihrer eigenen Sicht der Welt. Etwa, dass ein Mann zur Frau werde, wenn er Goldschmuck trägt. Oder dass Männer wie Ochsen seien und Frauen wie Kühe. Oder der ihr geltende Wunsch, ihr Seelenheil möge gerettet werden, da sie als Forscherin in einem Männerberuf arbeite.

Freiwillig den Nikab tragen

In solchen Situationen verzichtet Menzfeld auf einen Kommentar und überhört abschätzige Bemerkungen grosszügig. Ja nicht nur das, sie fragt auch nach: Warum? Wie meinen Sie das? Als Wissenschaftlerin gehe es ihr darum, die Perspektive dieser Menschen zu verstehen. «Es ist eine der grössten Herausforderungen in meinem Job, sich in Personen hineinzuversetzen, mit denen man wenig teilt und die ganz andere Massstäbe ans Leben setzen.»

Die Geschichte über den Salafisten mit Burn­out ist nur eines von vielen Beispielen, die dem Klischee des dominanten Mannes widersprechen. «Es kommt unter Salafis auch vor, dass Frauen ihre Männer schlagen», so Menzfeld. Mit gleicher Münze heimzuzahlen, ist für die Männer schwierig, denn Salafisten glauben sinngemäss: Frauen sind emotional, Männer vernünftig. Im Affekt zurückschlagen steht ihnen deshalb nicht gut an.

Die Geschlechterverhältnisse bei konservativen Muslimen, so lautet Menzfelds Schluss, sind nicht so klar und hierarchisch, wie sie von aussen erscheinen. Auch aus diesem Grund hält sie die Debatte um das Verhüllungsverbot, über das die Schweiz kürzlich abstimmte, für «vollkommenen Unfug». Von den knapp 30 Frauen, die sich in der Schweiz voll verschleiern, kenne sie einige persönlich. «Keine von ihnen wurde von ihrem Mann oder sonst jemandem gezwungen, den Nikab zu tragen», sagt sie. «Diese Frauen haben sich sehr bewusst dafür entschieden.» Und die Touristengruppen mit Frauen im schwarzen Ganzkörpertuch? «Wer in die Schweiz reisen kann, gehört zuhause zu den Privilegiertesten. Dass der Schleier eine Einschränkung sein könnte, darüber denken diese Frauen vermutlich selten nach.»

Gute und schlechte Eifersucht

Menzfeld interessiert sich in ihrer Forschung vor allem dafür, wie Salafisten ihre Emotionen regulieren und welche moralischen Aushandlungsprozesse sie dabei durchlaufen. «Viele Salafis suchen nach Balance, nach innerem Frieden. Diesen finden sie, wenn sie jene Emotionen fühlen, die gottgefällig sind, also moralisch geboten», sagt die Ethnologin. Konkret gelten gemäss Koran und Hadith gewisse Emotionen als positiv, andere als negativ – wobei es immer auch auf die Situation ankommt. Die Forscherin erklärt dies anhand der Eifersucht: «Wenn eine Frau fremden Männern nahekommt und der Mann sich darüber nicht ärgert, soll sie ihn ermahnen.»

Diese «protektive Eifersucht» des Mannes würde der Frau zeigen, dass er sich um ihr Seelenheil sorgt und zugleich seiner Pflicht als moralischer Familienvorstand nachkommt. Macht der Mann seiner Frau aus dem gleichen Grund jedoch eine theatralische Szene, gilt dies als ungute «selbstsüchtige Eifersucht». In diesem Fall müsste der Mann einen «Kampf gegen sich selbst» führen statt seine Frau anzumeckern. Ähnlich bewerten viele Salafisten andere Emotionen. Traurigkeit etwa sollen auch Männer öffentlich zeigen – weinen ist jedoch nur in bestimmten Situationen angebracht. Etwa, wenn der Koran gelesen oder über das Leid der Menschen geklagt wird. Ihre Gesprächspartner trifft Menzfeld persönlich zu ausgiebigen, privaten Gesprächen – in der Wissenschaft spricht man von eng teilnehmender Beobachtung. Häufig besucht sie Salafisten zuhause, man trinkt zusammen Tee. Oder aber sie begleitet sie auf einen Spaziergang oder zum Einkaufen. Die Frage drängt sich auf: Ist das nicht gefährlich, insbesondere als Frau? Schliesslich gilt der Salafismus seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York als Brutstätte für Terrorismus. Menzfeld relativiert. «Die allermeisten haben sich dem Salafismus zugewendet, weil sie nach persönlichem Frieden oder festen Glaubensstrukturen suchen. Nur die wenigsten verteilen Korane oder wollen gar kämpfen.» Da aber einige wenige tatsächlich in die gewalttätige Szene abrutschen, sei eine gewisse Vorsicht geboten. Neue Personen treffe sie oft nur auf Empfehlung von Informanten, die sie seit Jahren kennt.

Observiert und abgehört

Menzfeld macht auf ein weiteres falsches Klischee aufmerksam: jenes von den gefährlichen Salafisten mit Bart und kurzen Hosen. «Hellhörig sollte man eher werden, falls sich junge Männer plötzlich den Bart abrasieren, lange Hosen tragen, sehr viel beten und dramatische Videos konsumieren.» In den Moscheen würden solche Leute auffallen. Darum plädiert Menzfeld dafür, Imame in Deradikalisierungsprogramme einzubinden. «Sie können die Jugendlichen besonders effektiv theologisch abholen und gegen Dschihadi-Narrative argumentieren.» In Deutschland hätten solche Programme schon einigen Erfolg gehabt.

Menzfeld sieht es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, das Bild des kampfbereiten Salafisten zu korrigieren. Dies tut sie, indem sie den Alltag der grossen Mehrheit der friedlich lebenden Salafisten beschreibt. «Die meisten versuchen hier zu leben, ohne anzuecken.» Darum würden auch viele Salafistinnen keinen Gesichtsschleier tragen. «Trägt die Frau einen Nikab, heisst es schnell: Da wohnen die potenziellen Terroristen», sagt die Ethnologin. Als Folge grüssen Nachbarn nicht mehr, das Kind verliert seine Spielkameraden. Informantinnen erzählten Menzfeld zudem von Beamten, die vor ihrer Türe standen, um sie zu observieren. Oder davon, dass das Handy der Tochter angezapft wurde. Und immer wieder auch von offenen Anfeindungen.

Entsprechend gross ist das Misstrauen, wenn Menzfeld für ein Treffen anfragt. «Ich investiere sehr viel Zeit in den Vertrauensaufbau. Manchmal werde ich sechsmal versetzt und beim siebten Mal taucht jemand auf.» Doch es lohnt sich. Ist das Misstrauen einmal überwunden, öffnen sich die Menschen ihr gegenüber. «Wie wir alle haben auch Salafis ein starkes Bedürfnis, verstanden zu werden.» Denn sie selbst leiden am meisten unter falschen Klischees.

 

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