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Ringvorlesungen

«Belarus sichtbar machen»

Belarus ist ein Teil Europas, dennoch nehmen viele das Land kaum wahr, sagt Iryna Herasimovich. Eine Ringvorlesung mit Beteiligung der UZH möchte das ändern. Im Interview spricht die belarussische Übersetzerin gemeinsam mit UZH-Slavistikprofessorin Sylvia Sasse über die aktuelle Situation im Land und Hintergründe zur Online-Veranstaltungsreihe, die heute beginnt.
Roger Nickl
«Das Leben in Belarus ist zuweilen ziemlich verrückt» – Alltagsszene in Minsk.


Iryna Herasimovich, Sylvia Sasse, seit den Protesten gegen seine dubiose Wiederwahl im letzten Jahr geht Machthaber Alexander Lukaschenko mit drastischen Mitteln gegen die Opposition vor. Vor kurzem wurde Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa zu elf Jahren Haft verurteilt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Belarus?

Iryna Herasimovich: Das ist schwer zu sagen. Wie in jeder Krise ist die Situation in Belarus komplex. Was man aber sicher sagen kann: Es herrscht grosse Willkür. Viele Menschen im Land fühlen sich zurzeit nicht in Sicherheit.     

Was bedeutet das für den Alltag?

Herasimovich: Das Leben in Belarus ist zuweilen ziemlich verrückt. Man gewöhnt sich zum Beispiel daran, ständig abzuchecken, was man in der Handtasche mit sich trägt oder was man zu Hause aufbewahrt, das allenfalls verfänglich sein könnte. Und zuweilen kauft man extra viel ein und verlässt ein Geschäft mit prall gefüllten Taschen – nur um zu zeigen, dass man wirklich auch einkaufen war. Wir können über solche Dinge manchmal auch lachen – den Humor nicht zu verlieren ist wichtig. Die Unzufriedenheit mit dem System und der Wunsch nach Selbstbestimmung sind immer noch da, auch wenn derzeit eher unsichtbar. Was heute im Land passiert, ist nicht so spektakulär und medientauglich wie die Demonstrationen vom letzten Jahr.

In Westeuropa ist wenig bekannt über Belarus – weshalb ist das so?

Herasimovich: Das hat vor allem mit der Isolation des Landes zu tun. Es ist tatsächlich so, dass bis vor kurzem viele nicht hingeschaut haben, was in Belarus passiert.

Das wollen Sie nun mit der Ring-Vorlesung ändern, die Sie mit Kolleginnen und Kollegen aus fünf anderen Schweizer Universitäten organisiert haben?

Sylvia Sasse: Genau. Denn Isolation und Unsichtbarkeit hängen eng zusammen. Die Isolation des Landes liegt im Interesse von Lukaschenko. Er will natürlich, dass Belarus ein weisser Fleck bleibt, dass man nicht sehen kann, was dort passiert. Wir möchten dagegen die Perspektive der Menschen in Belarus aufzeigen, aber auch Forschung zu Belarus und künstlerische Projekte, die seit Jahren laufen, thematisieren. Diese Aufmerksamkeit hilft auch den Menschen im Land, denn das Wichtigste ist, dass die Verbindung nicht abbricht, dass die gewollte Isolation nicht funktioniert. Die Ringvorlesung findet beispielsweise über Zoom statt. Das hat einen entscheidenden Vorteil: Menschen können von überall, daran teilnehmen. Ausserdem wird Iryna Herasimovich einige Vorlesungen simultan ins Belarussische übersetzen, so kann man auch von Belarus aus teilnehmen.

Ist das Internet dort nicht zensuriert?

Sasse: Zensur gibt es und einige Websites sind gesperrt, aber davon ist die Ringvorlesung nicht betroffen. Die Veranstaltungsreihe soll ein beidseitiger Austausch zwischen Menschen hier und in Belarus werden. Wir möchten ein in die Zukunft gerichtetes Netzwerk aufbauen und so künftig vielleicht gemeinsame Forschungsprojekte lancieren oder dafür sorgen, dass bereits bestehende Projekte weitergeführt werden. Denn auch an den Universitäten ist die Situation prekär. Viele Kolleginnen und Kollegen in Belarus sind entlassen und verhaftet worden, Studierende wurden exmatrikuliert und ebenfalls verhaftet, wenn sie beispielsweise an Demonstrationen teilgenommen haben. Umgekehrt gibt es an Schweizer Hochschulen noch wenig Forschung zu Belarus. Auch da besteht ein grosser Nachholbedarf.

Herasimovich: Die Aufmerksamkeit und die Diskussion mit Menschen ausserhalb Belarus’ sind in der Tat sehr wichtig. Denn Krisen verengen den Wahrnehmungshorizont. Ich war bis Mitte Mai in meinem Dorf im Westen des Landes und habe von dort aus Vorträge über die belarussische Kultur gehalten. Das war ganz wichtig für mich. Man muss die Räume öffnen. Die Diskussionen mit Menschen ausserhalb des Landes sind die frische Luft, die wir zum Leben brauchen.

Wenn man mehr über Belarus erfahren möchte: Welches Buch würden Sie als Einstieg in die Kultur des Landes empfehlen?

Herasimovich: Ich würde «Minsk. Sonnenstadt der Träume» von Artur Klinaŭ  empfehlen. Von ihm wird im Herbst bei Suhrkamp auch das Revolutionstagebuch «Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk» erscheinen. Das Buch beleuchtet die Proteste nach den Wahlen vom letzten Jahr und ihre Vorgeschichte – etwas vom Besten, das es zu diesem Thema gibt.

Wie schätzen Sie die Zukunft ein: Gibt es Hoffnung auf ein demokratische Belarus?

Sasse: Die Proteste des letzten Jahres waren sehr wichtig. Sie haben einen Prozess der Selbstvergewisserung innerhalb der Zivilbevölkerung in Bewegung gebracht – die Menschen sind sich ihrer Stärke und ihrer Ziele nun bewusst. Europa könnte sich aber mehr für ein demokratisches Belarus engagieren. Kleine Sanktionen reichen nicht aus, staatliche Interventionen müssen viel mehr das Zentrum der Macht treffen.

Herasimovich: Ich glaube an natürliche Prozesse: Das erstarrte System wird auf Dauer nicht lebensfähig sein. Das macht mir Hoffnung. Wichtig ist aus meiner Sicht auch, dass wir Belarus als Teil Europas sehen und verstehen lernen. Auch dazu möchte die Ringvorlesung beitragen.
 

 

Die Gesprächspartnerinnen

Iryna Herasimovich ist Übersetzerin und Essayistin. Sie hat Autoren wie Michael Kumpfmüller, Lukas Bärfuss, Jonas Lüscher und Ilma Rakusa ins Belarussische übersetzt und ist Doktorandin am Slavischen Seminar.

Sylvia Sasse ist Professorin für Slavische Literaturwissenschaft an der UZH.