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Jacobs Center for Productive Youth Development

«Forschung ist keine One-Man-Show»

Anfang August hat Moritz Daum die Direktion des Jacobs Center for Productive Youth Development übernommen, das voll ausgebaut ist und seine Zielgrösse erreicht hat. Der Entwicklungspsychologe will die Zusammenarbeit der drei Fachbereiche Soziologie, Ökonomie und Psychologie weiter stärken. Ziel sind neue Erkenntnisse zugunsten der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Stefan Stöcklin
moritz daum
Der neue Direktor des Jacobs Center und Entwicklungspsychologe Moritz Daum forscht selbst über Mehrsprachigkeit bei kleinen Kindern und wie sie mit dieser Herausforderung umgehen. (Bild: Eva-Maria Schöning/fb)

 

Herr Daum, Sie haben am 1. August die Leitung des Jacobs Center for Productive Youth Development (JCPYD) übernommen, herzliche Gratulation. Was war ausschlaggebend für Ihre Wahl?
Moritz Daum: Das Jacobs Center hat den Auftrag, die Entwicklung des Menschen mit einem Fokus auf das Kindes- und Jugendalter zu erforschen. Als Entwicklungspsychologe ist das mein Fachgebiet. Was das Center auszeichnet, ist die Kombination der drei Bereiche Soziologie, Ökonomie und Psychologie, wobei weitere Disziplinen assoziiert sind. Dieser Auftrag zum gemeinsamen Arbeiten und die Chancen, die darin liegen, eine wissenschaftliche Frage unter verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln anzugehen, haben mich motiviert, mich stärker einzubringen und die Leitung des Centers zu übernehmen.

Sie möchten also die Interdisziplinarität stärken?
Forschung ist heute keine One-Man-Show mehr, sondern Teamarbeit, die über die Grenzen der eigenen Disziplin hinausführt. Die Vernetzung der verschiedenen Disziplinen finde ich wahnsinnig spannend, aber auch herausfordernd, denn man muss eine gemeinsame Sprache und Basis finden. Diesen Anspruch möchte ich erfüllen, das heisst Menschen aus verschiedenen Bereichen zusammen- und in Bezug zueinander bringen.

In den letzten Jahren gab es einen Managing Director und einen Research Director, nun vereinen Sie die beiden Funktionen in einer Person. Wieso?
Eine Leitungsperson wurde schon bei der Gründung des Jacobs Center im Jahr 2003 eingesetzt. 2015 gab es einen Relaunch und während der letzten zwei Jahre wurden die Aufgaben für Management und Forschung aufgeteilt, um eine einzelne Person in der aufwendigen Phase des vollständigen Ausbaus des Jacobs Center nicht zu überlasten. Nun sind alle Professuren besetzt, die Abläufe etabliert. Nun können wir die Direktion wieder auf eine Person konzentrieren.

Befürchten Sie nicht, als Direktor derart eingespannt zu sein, dass kaum mehr Zeit für eigene Forschung bleibt?
Diese Angst hat wohl jeder Forscher und jede Forscherin, der oder die in der Universität organisatorische Aufgaben übernimmt. Diesbezüglich war mein Übertritt 2012 vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, wo ich bis zuletzt im Labor stand, an die Universität Zürich tiefgreifender. Ich bin unterdessen in die Rolle des Forschungsmanagers hineingewachsen und habe mich mit dieser neuen Rolle angefreundet. Ich sehe mich heute auch als jemanden, dessen Aufgabe es ist, Forschung zu ermöglichen und der nicht selbst alles erforschen muss.

Das JCPYD ist ein Joint-Venture der UZH mit der Jacobs Foundation. Ist die akademische Unabhängigkeit gewahrt?
Ja, in jedem Fall! Die Forschungs- und Lehrfreiheit sind vollständig gewahrt und vertraglich geregelt. Wir sind im regelmässigen, sehr wertschätzenden Austausch mit der Jacobs Foundation. Aber es gibt keine Verflechtung von Interessen.

Sie haben vorhin die drei Disziplinen Psychologie, Soziologie und Ökonomie genannt. Ist die Kombination dieser drei Bereiche einzigartig?
Für die Schweiz sicherlich, man könnte uns mit Max-Planck-Instituten in Deutschland vergleichen, wo ein Thema in den Vordergrund gestellt wird. Die drei Bereiche befassen sich aus unterschiedlichen Blickpunkten auf die Entwicklung und passen gut zusammen. Wichtig ist dabei aber zu betonen, dass diese drei Disziplinen nur einen Teil der Wissenschaft abdecken, die sich mit der Entwicklung des Menschen beschäftigt. Wichtige Partner sind die Erziehungswissenschaften oder die Entwicklungspädiatrie. Aber auch die Biologie, Anthropologie und Sprachwissenschaften setzen sich mit dem Thema auseinander. Es gibt viele Disziplinen, mit denen wir eng zusammenarbeiten.

Wohin wollen Sie das Institut führen, welche Schwerpunkte möchten Sie in Zukunft setzen?
Wie gesagt soll das Jacobs Center ein Zentrum sein, an dem die Leute aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam an Projekten arbeiten. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert von allen ein Zugehen aufeinander. Diese Vernetzung innerhalb des Jacobs Center, ich spreche gerne von «Centerness», ist mir ein grosses Anliegen.

Wie wichtig ist die Vernetzung mit Forscherinnen und Forschern ausserhalb des Centers?
Unsere Zusammenarbeit mit mehreren Universitären Forschungsschwerpunkten wie den beiden UFSPs «Plastische Hirnnetzwerke für Entwicklung und Lernen» oder «Dynamik Gesunden Alterns» sowie dem Nationalen Forschungsschwerpunkt «Evolving Language» zeigt, dass wir nach aussen gut vernetzt sind. Erwähnen möchte ich auch die Einrichtung eines Magnetresonanztomografen am Kinderspital Zürich, das neue gemeinsame Projekte ermöglicht. Die Förderung der Zusammenarbeit des Jacobs Center innerhalb und ausserhalb der Universität Zürich ist eine Daueraufgabe.

Wie würden Sie die Ziele der Forschung auf den Punkt bringen?
Am Ende geht es in unserer Forschung um die Suche nach den «universals» und «specificities». Also was haben alle Menschen in ihrer Entwicklung gemeinsam und was ist individuell, das heisst durch den Kontext der Eltern, der Sprache, der Kultur und das soziale Umfeld entstanden. Unsere Forschung soll zu wirksamen Interventionen zugunsten von Kindern und Jugendlichen führen, auch wenn Grundlagenforschung nicht immer direkt in neue, zum Beispiel pädagogische Konzepte überführt werden kann.

Können Sie konkrete Beispiele aus der Forschung nennen, die etwas in Bewegung setzen konnten?  
Wir haben über die länger laufenden Längsschnittstudien Cocon (Comitment and Contact) und z-proso (Zürcher Projekt zur sozialen Entwicklung von der Kindheit ins Erwachsenenalter) einen grossen Beitrag leisten können. Ich kann hier nicht alle Ergebnisse dieser langjährigen Studien aufzählen. Aktuell hat z-proso etwa ergeben, wie sich die Corona-Krise auf das Leben junger Erwachsener auswirkt. Wir beginnen jetzt mit einer grossen, dritten Längsschnittstudie, Bunavia, in der es darum geht, entscheidende Faktoren zu identifizieren, wie Kinder und Familien ihr Leben strukturieren. Dazu gehört, wie sie Zeit für verschiedene Aktivitäten aufwenden und wie Netzwerke von Kindern, Eltern und Lehrpersonen zur Entwicklung, Identität und zum Lernen der Kinder beitragen.

Wieso sind Längsschnittstudien wichtig?
Ein Grossteil der entwicklungspsychologischen Forschung beruht immer noch auf der Untersuchung von Altersunterschieden. Man vergleicht zum Beispiel eine Gruppe vierjähriger mit sechsjährigen Kindern. Aber das sagt wenig über die Veränderung eines Kindes in dieser Zeitspanne aus. Erst wenn man in Längsschnittstudien die gleichen Personen in bestimmten zeitlichen Abständen wiederholt untersucht, kann man Aussagen über individuelle Veränderungsprozesse machen.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung vor allem mit der kognitiven Entwicklung von Kleinkindern: Was interessiert Sie besonders?
Mich interessiert die sozialkognitive Entwicklung von Kindern, das heisst wie interagieren kleine Kinder mit anderen Menschen sowohl nonverbal als auch verbal, und wie hängen diese Kommunikationsformen zusammen, auch unter den Aspekten der Kultur und Mehrsprachigkeit. Das sind Themen, die gesellschaftlich hochrelevant sind. Studien aus den 1970er Jahren haben beispielsweise ergeben, dass der sozioökonomische Status der Eltern einen grossen Einfluss auf die Sprachentwicklung der Kinder hat: je höher desto grösser der Wortschatz und besser die Schulleistung, obwohl die Kinder nicht begabter sind. Es gibt aber mittlerweile Studien, die zeigen, dass man diese unterschiedlichen Niveaus ausgleichen kann, wenn man viel mit seinen Kindern spricht und ihnen auch die Möglichkeit gibt, die Sprache anzuwenden. Dieses Beispiel zeigt auch schön auf, wie man mit wenig Aufwand viel bewirken kann.

Woran arbeiten Sie gerade?
In unserer Forschung zur mehrsprachigen Sprachentwicklung gehen wir aktuell der Frage nach, wie die spezifischen Erfahrungen, die Kinder in ihrem Alltag machen, sich auf die Entwicklung ihrer kommunikativen Fähigkeiten auswirken. Mehrsprachige Kinder erleben zum Beispiel häufiger Missverständnisse oder müssen sich immer wieder an die Sprache des Gesprächspartners anpassen. Unsere Forschung hat gezeigt, dass das zu einer Sensibilisierung der kommunikativen Fähigkeiten der Kinder führt.

Sie haben 2019 in Ihrem Team die kleine Weltentdecker-App lanciert, mit der Eltern einfache Fragen zum Entwicklungsstand ihrer Kinder auf dem Smartphone beantworten. Wie läuft das Projekt?
Die App ist eine Art digitales Entwicklungstagebuch und liegt jetzt in drei Landessprachen und Englisch vor. Unterdessen machen bereits mehr als 2500 Eltern mit, mal kürzer mal länger. Mit der Datenerhebung zu Hause verfolgen wir bei einer grossen Stichprobe die Bandbreite der Entwicklung von Kindern bis sechs Jahre, die sich tatsächlich stark unterscheiden kann. Gleichzeitig informieren wir die Eltern über die wichtigsten Entwicklungsschritte ihrer Kinder. Wir sind laufend daran, die App weiterzuentwickeln, das Potential ist riesig. Durch die App haben sich zum Beispiel neue Kooperationen mit dem Marie Meierhofer Institut für das Kind und mit dem Kinderspital in Zürich (Neonatologie) ergeben. Dieses spezifische Forschungsprojekt ist seit 2020 am Jacobs Center etabliert und die App kann idealerweise in Zukunft auch für die interdisziplinäre Forschung am Jacobs Center eingesetzt werden.

Das tönt nach einer Erfolgsstory?
Die App hat zumindest das Potential, eine Erfolgsstory zu werden. Mit der App haben wir einerseits ein Forschungsinstrument, mit der wir diese Frage nach den «universals» und «specificities» der Entwicklung bei einer grossen Zahl von Kindern studieren können. Andererseits können wir die Eltern über die Schönheit der Entwicklungsschritte ihrer Kinder informieren. Die Idee zur App ist aus einer Veranstaltung für Studierende hervorgegangen und wurde dann mit sehr grossem Aufwand innerhalb meiner Arbeitsgruppe und mit Partnern aus IT und Graphikdesign weiterentwickelt und perfektioniert.

In der Diskussion über die Entwicklung von Kindern fällt immer wieder das Schlagwort Nature oder Nurture, also die Frage ob diese stärker durch die Gene oder die Umwelt geprägt ist. Die Debatte pendelte lange zwischen den Extremen hin und her - wo befindet sich das Pendel zurzeit?
Ich denke, um bei diesem Vergleich zu bleiben, dass die Pendelbewegung abgenommen hat. Wir gehen heute weder davon aus, dass alles gelernt, noch dass alles angeboren ist. Wir besitzen von Geburt an ein biologisches Potential, das aber nur unter optimalen Bedingungen ausgeschöpft werden kann. Sind die Bedingungen ungünstig, wird das Potential nicht erreicht. Wie gross die genetischen respektive umweltbedingten Anteile sind, ist schwer zu sagen, ausserdem ändert sich das mit dem Älterwerden der Kinder. Der Einfluss der Umwelt des Elternhauses nimmt mit zunehmendem Alter der Kinder ab, während der Einfluss der Gene mit zunehmendem Alter steigt. Das kann man sich gut erklären, denn Kinder werden mit steigendem Alter autonomer und leben stärker nach ihren eigenen, genetisch verankerten Interessen.

Wenn Sie unbegrenzte finanzielle Ressourcen hätten, für welche Projekte würden Sie die einsetzen?
Bei der Frage nach den «universals» und den «specificities» kann man sicher investieren, das Thema lässt sich nur über viele Kulturen und Altersstufen hinweg studieren, was enorme Ressourcen benötigt. Aber als Entwicklungspsychologe bin ich ja eigentlich stärker durch die Zeit eingeschränkt. Als Forscher hier an der UZH habe ich circa 25 Jahre zur Verfügung. Die Kinder, die ich von Klein auf studiert habe, sind dann etwa 30jährig. Leider kann ich sie nicht das ganze Leben verfolgen. Die zeitlichen Randbedingungen lassen sich auch mit unlimitierten Finanzen nicht aufheben. Mehr Zeit als Ressource wäre für mich als Entwicklungspsychologe also sehr wünschenswert.