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Porträt: Artur Avila

Jenseits der Tatsachen

In seiner Heimat Brasilien flog er von der Schule. Heute ist Artur Avila preisgekrönter Mathematiker und lehrt an der UZH.
Michael T. Ganz
Artur Avila
Artur Avila: «Im Gegensatz zu Newton ist uns egal, ob es die Sonne irgendwann noch gibt oder nicht. Wir denken längerfristig.» (Bild: Marc Latzel)

 

Eine Wandtafel, schwarz, mit Kreide und Schwammhalter, wie in den Schulstuben von einst. Darauf Zahlen, Buchstaben, Kurven, wild hingekritzelt, teils weggewischt, hastig überschrieben. «Ich mag diese modernen Whiteboards nicht», sagt Artur Avila, die Füsse auf dem freien Stuhl zwischen uns. Die altmodische Wandtafel ist der einzige prominente Wandschmuck im Büro des 40-jährigen Brasilianers. Seit einem Jahr ist er ordentlicher Professor am Mathematischen Institut der Universität Zürich. Auch Stanford, Yale oder Princeton hätten ihn genommen. Aber er mag den amerikanischen Lebensstil nicht. «Hier in Zürich fühle ich mich weniger einsam. Hier gibt es viele Kolleginnen und Kollegen, die ähnlich ticken wie ich.»

Und so wie er tickt wohl nicht mancher. Avila beschäftige sich mit dynamischen Systemen verschiedener Art und mit mathematischer Physik etwa der Spektraltheorie von Schrödingeroperationen, las ich bei Wikipedia, bevor ich ihn auf dem Zürcher Irchel-Campus besuchte. In seiner Dissertation habe er die aus dem Feigenbaum-Szenario bekannte Untersuchung quadratischer Abbildungen des Einheitsintervalls auf unimodale Abbildungen erweitert, später das 10-Martini-Problem gelöst, bei dem es um die Struktur des Spektrums eines Elektrons in einem Magnetfeld gehe, und dann noch bewiesen, dass generische volumenerhaltende Diffeomorphismen mit positiver metrischer Entropie ein ergodisches C1-dynamisches System bildeten.

Alles klar? «Forget it», meint Avila und lacht. Er zeichnet Kugeln und Kreise auf ein Papier und hält es mir hin. «Es beginnt mit der Physik, genau genommen mit Newton.» Newton fand bekanntlich heraus, dass ein Planet aufgrund der Gravitationskraft in einer stabilen elliptischen Bahn um die Sonne kreist. «Und nun stell dir ein etwas komplizierteres System vor, bei dem drei Elemente aufeinander reagieren. Da ist nichts mehr stabil, da sind die Bewegungen völlig neu und anders.» Da beginne bald schon die Chaostheorie, der Mensch stosse an die Grenzen der Voraussagbarkeit. Und deshalb geht es bei Avilas Forschung nicht mehr um physikalische Vorgänge, sondern nur noch um abstraktes Rechnen. «Was uns Mathematiker interessiert, braucht keinen Bezug zur Realität. Im Gegensatz zu Newton ist uns egal, ob es die Sonne irgendwann noch gibt oder nicht. Wir denken längerfristig.»

Olympiagold im Rechnen

Artur Avila will verstehen, wie sich hochkomplexe dynamische Systeme mit der Zeit verändern, selbst wenn es sie physisch gar nicht gibt. Und er möchte die Veränderungen prognostizieren können. Damit erfüllt er sich einen Bubentraum. «Schon als Kind wollte ich Dinge entdecken und erklären», erzählt Avila. Physiker oder Astronom wollte er werden und die Geheimnisse des Big Bang lüften. «Mathematik war für mich ein mühsames Schulfach. Alles, was wir durchnahmen, hatte ich schon lange vorher gelesen.» Einer seiner Lehrer ermunterte ihn, an der Mathematik-Olympiade teilzunehmen. Artur war 13. «Ich ging einfach mal hin. Und merkte, dass ich mich ernsthaft vorbereiten musste, wenn ich eine Chance haben wollte.»

Von da an liess er Schule, Sport und Sozialkontakte links liegen und begann zu büffeln. Er löste die Aufgaben der Vorjahres-Olympiaden, so, wie andere Kinder die Aufgaben alter Schulprüfungen lösen, um eine nächste zu bestehen. Er trat mehrmals zur Olympiade an und gewann mit 16 Jahren Gold. Parallel zum letzten Schuljahr, also noch vor der Maturität, studierte Artur Avila bereits am Institute for Pure and Applied Mathematics in Rio de Janeiro, der bedeutendsten Forschungseinrichtung Lateinamerikas auf diesem Gebiet. «Ich war froh, endlich am richtigen Ort zu sein. Das Gymnasium hatte ich nie gemocht.» Mit 15 hatte Artur Avila gar die Schule wechseln müssen. Im Unterricht war es um den Gottesbeweis gegangen. «Unser Lehrer wollte uns glauben machen, die Existenz Gottes sei keine dogmatische Frage, sie lasse sich vielmehr nach den Gesetzen der Logik erklären. Das akzeptierte ich nicht.» Artur Avila bot dem Lehrer so lange die Stirn, bis er von der Schule flog.

Papa und Mama hatten freilich keine Freude. Doch sie wussten schon lange, dass ihr Sohn anders war als andere Kinder. Hat Artur seinen intellektuellen Entdeckergeist von den Eltern geerbt? Er schüttelt den Kopf. Sein Vater war im Amazonastiefland aufgewachsen, war nur kurze Zeit zur Schule gegangen und arbeitete ein Leben lang als Buchhalter bei einem Staatsbetrieb. Eine Karriere, die ähnlich auch für Artur gedacht war. Nur hätte sich dieser mit den profanen Zahlen einer Buchhaltung nie zufriedengegeben. «Ich brauchte die intellektuelle Herausforderung», sagt Avila rückblickend über sich selbst.

Denken ist alterslos

Auch wenn er sich – wie das Beispiel seines Schulrauswurfs zeigt – durchaus auflehnen konnte, war Artur Avila im Grunde genommen ein scheuer Schüler und anfangs auch ein scheuer Student. An der Universität wagte er es kaum, seine Gedanken und Ideen laut auszusprechen. «Ich war es ja nicht gewohnt, eigene Denkmodelle zu entwickeln und diese gar noch öffentlich zu machen. Dann sah ich aber plötzlich andere, die mit ihren Ideen frei hausierten, auch wenn sich diese bald als falsch erweisen sollten.» Da ging Avila ein Licht auf. «Jetzt wusste ich: Ich musste nicht warten, bis alle Zweifel an einem Gedanken ausgeräumt waren. Ich durfte mich auch einfach mal äussern und dabei Fehler machen.» Allzu viele Fehler machte Artur Avila allerdings nie, auch wenn er als Früheinsteiger stets der Jüngste unter den Jungen war. Denken, so sagt Avila, sei alterslos. «Wenn ein Sechzehnjähriger korrekter argumentiert als ein Vierzigjähriger, ist das unter Mathematikern völlig okay.»

Mit 19 begann Avila seine Dissertation, mit 21 war er Doktor der Mathematik. Dann folgte er einem Ruf nach Paris an das Centre National de la Recherche Scientifique, Frankreichs grösster staatlicher Wissenschaftsorganisation. Mit 29 wurde er hier zum jüngsten «Directeur de recherche» aller Zeiten ernannt. Für seine Forschungstätigkeit gewann Avila mehrere internationale Preise und erhielt im Alter von 35 Jahren als erster Lateinamerikaner die Fields-Medaille. Sie gilt als Nobelpreis für Mathematik, ist sie doch die höchste internationale Anerkennung für herausragende Entdeckungen in diesem Fach.

Ohne Fakten

Was fasziniert den Mann, der so gar nicht aussieht und spricht wie ein Hochschulprofessor und Mathematikgenie, an seinem Fach? Mathematik, sagt Avila, sei eben eine sehr besondere Disziplin. So brauche ein Mathematiker weit weniger Erfahrung als etwa ein Sozialwissenschaftler, dessen Wissen auf langjährigen Experimenten und Studien beruhe. Gerade deshalb sei das Alter für einen Mathematiker nicht zwingend ein Vorteil. Auch benötige ein Mathematiker kein Versuchslabor wie etwa ein Naturwissenschaftler, er brauche keine Fakten, um eine Theorie zu belegen.

«In der Mathematik kannst du abstrakt vorwärtsarbeiten, ganz unabhängig von Tatsachen. Du kreierst ein Modell, denkst darüber nach und musst es nicht an der realen Welt messen.» Wichtig allerdings, so Artur Avila, sei der Austausch von Ideen und Erkenntnissen. Dazu brauchen er und seine Forschungspartner vor allem den Computer und das Internet. Avila ist gleichzeitig an mehreren Forschungsprojekten in Europa, in den USA und in China beteiligt. «Der grösste Teil meiner Arbeit geschieht am Bildschirm über Tausende von Kilometern hinweg.» Dann und wann diskutiert Artur Avila aber auch mit Kollegen und Studierenden am Institut auf dem Irchel. Gemeinsam kreieren sie Ideen, rechnen sie nach, verwerfen sie wieder, suchen nach neuen. Und genau dafür ist sie da, die Wandtafel in Avilas Büro. Schwarz, mit Kreide und Schwammhalter, wie in den Schulstuben von einst.

 

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