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Psychologie

Gestählte Psyche

Viele ehemalige Verdingkinder hatten eine traumatische Kindheit. Einigen ist es gelungen, die negativen Erfahrungen zu verarbeiten. Die Psychologin Myriam Thoma wollte wissen, wie.
Simona Ryser
Heinz Egger (Jahrgang 1934) ist eines von vielen ehemaligen Schweizer Verdingkindern.


Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. An diesem Sprichwort könnte etwas Wahres sein, sagt eine Psychologin. Myriam Thoma interessiert sich dafür, wie Menschen mit belastenden Erlebnissen umgehen. Denn ein gewisses Mass an Stresserfahrung kann unter günstigen Voraussetzungen die eigene Entwicklung und Widerstandskraft fördern, weiss die Co-Leiterin der Forschungsgruppe «Resilienz» am Psychologischen Institut der UZH. Im Rahmen des Universitären Forschungs-schwerpunkts «Dynamik Gesunden Alterns» haben sie und ihr Team in einer Studie mit ehemaligen Verdingkindern untersucht, wie es möglich ist, trotz eines schweren Schicksals in der Kinder und Jugendzeit psychisch gesund zu altern.

«Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nie etwas», dieser Satz sei das Schlimmste, was man einem Kind sagen könne, erzählte ein ehemaliges Verdingkind den Psychologen. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden in der Schweiz hunderttausende Kinder aus ihren Familien gerissen und auf fremden Höfen platziert, wo sie als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Dort erlebten die meisten enormes Leid, wurden emotional vernachlässigt, geschlagen, sexuell missbraucht. Sie wurden entwurzelt, mussten hart arbeiten und waren auf sich selbst gestellt. Bis in die 1960er-Jahre wurden in der Schweiz Kinder verdingt.

Das Schweigen brechen

Erst vor einigen Jahren begann die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels. Ehemalige Verdingkinder brachen das Schweigen, Bücher und Berichte erschienen. Am Psychologischen Institut der UZH wurde unter der Leitung von Andreas Maercker in mehreren Studien untersucht, wie es den ehemaligen Verdingkindern im Verlauf ihres Lebens ergangen ist und was die Langzeitfolgen der erlittenen Traumata sind. Das traurige Resultat: Viele der Befragten leiden bis ins hohe Alter unter Depressionen, an posttraumatischen Belastungsstörungen und an Angststörungen. Eine unbekannte Anzahl Betroffene nahmen sich das Leben.

Die Studien zeigten aber auch, dass etwa die Hälfte der etwa 140 Befragten keine klinisch relevanten psychischen Folgestörung erlitten. Das überraschte Forscherin Myriam Thoma. Ging doch die Psychologie bisher davon aus, dass eine traumatische Kindheit oder Jugendzeit die Wahrscheinlichkeit stark erhöht, später an einer psychischen Störung zu leiden. Dem ist aber nicht immer so. Offenbar gibt es auch ehemalige Verdingkinder, die die negativen Kindheitserfahrungen verarbeiten konnten, die also resilient waren. Warum nur, wollte Thoma wissen, gehen die einen Menschen am Leid zugrunde und die anderen überstehen es nahezu schadlos? Welche Faktoren machen es, anders gefragt, aus, dass man eine Krise erfolgreich bewältigen kann?

Die UZH-Psychologen haben in zwei Umfragen versucht, der Resilienz auf die Spur zu kommen. Sie wollten wissen, ob es bestimmte Faktoren gibt, die die Widerstandskraft fördern und helfen, Strategien für die Stressbewältigung zu entwickeln. Thoma und ihr Team haben dazu Gespräche mit zwölf psychisch und körperlich gesunden ehemaligen Verdingkindern im Durchschnittsalter von 71 Jahren geführt.

Der Krise trotzen

Die innere Stärke ist einer der Faktoren, die Resilienz ausmachen, sagt Thoma im Rückblick auf die Interviews. Die Überzeugung, ich kann das, ich muss das überstehen, kann über eine Krise hinweghelfen. Allerdings, betont die Psychologin, sei Resilienz nicht allein eine Charaktereigenschaft. Das Umfeld muss auch stimmen. Der Schularzt sei sein Engel gewesen, der ihn in der Not unterstützt habe, sagte ein ehemaliges Verdingkind, ein anderes erzählte von der Kindergärtnerin, die intervenierte. Auch von Tierfreundschaften und Natureindrücken, die Kraft spendeten, um der Krise zu trotzen, berichteten Betroffene. Die Umwelt muss für den Menschen, der sich in Not befindet, die Situation relativieren, ihm Alternativen aufzeigen, erklärt Thoma. Tatsächlich ist es so, dass einige der ehemaligen Verdingkinder gerade durch die widrigen Erlebnisse gestärkt wurden und besondere Fähigkeiten entwickelten. In der Psychologie spricht man in dem Fall von «Steeling», von einem Stählungseffekt (siehe untenstehnde Box). Gemeint ist damit allerdings weniger eine Abhärtung. Im Gegenteil kann es sein, dass eine Krise Ressourcen freisetzt, die einen persönlich weiterbringen.

Die Betroffenen entwickeln aufgrund ihrer schlimmen Erfahrungen beispielsweise ein Anti-Täter-Modell. Das, was sie durchgemacht haben, wollen sie in ihrem weiteren Leben auf keinen Fall weitergeben. «Was ich in der Jugend erlebt habe, hat mir den Drang gegeben, im Leben noch etwas zu erreichen», sagte ein ehemaliges Verdingkind. Thoma erzählt von einer Frau, die ihr Haus eigenhändig renoviert hat. Die Erfahrung, eine Krise überstanden zu haben, kann Kräfte freisetzen und das Vertrauen geben, auch weitere Krisen überstehen zu können. Ein realistischer Optimismus ist einer der Faktoren, die der psychischen Gesundheit förderlich sind, sagt Thoma. Dabei fokussiert man trotz der Krisen auf das Positive und kann dadurch schlimme Erlebnisse relativieren. «Wenn es nicht mehr weitergeht, musst du einen anderen Weg suchen, es gibt immer einen», meinte ein Betroffener.

Dem Leben eine neue Richtung geben

Wichtig für viele ehemalige Verdingkinder war der Ortswechsel. Sie mussten die Vergangenheit hinter sich lassen und irgendwo neu beginnen. Dadurch ergab sich die Möglichkeit für einen «turning point», die Chance, dem Leben eine neue Richtung zu geben und sich weiterzuentwickeln. Der Wissensdurst vieler Betroffener ist gross. Sie haben sich weitergebildet, haben eine Sprache gelernt oder gehen einem besonderen Hobby nach, malen, musizieren. Die meisten psychisch gesunden Verdingkinder haben eine ausgeprägt soziale Ader und engagieren sich ehrenamtlich. Andere setzen sich für den Kinderschutz ein. Dies sicher auch, weil sie sich mit der eigenen traurigen Erfahrung, bei der die soziale Unterstützung meist gerade gefehlt hatte, bewusst auseinandersetzten, meint Thoma.

«Der Mensch ist ein Überlebenskünstler», resümiert die Psychologin, «er kann Krisen überstehen.» Immer wieder muss und kann er sich der Umwelt anpassen. Dies hat es ermöglicht, dass wir an der Spitze der Evolution stehen, sagt die Stressforscherin. Dennoch leidet rund ein Drittel der Bevölkerung unter klinisch relevanten psychischen Beschwerden – was enorm viel ist. Thoma sieht hier eine grosse gesellschaftliche Verantwortung und nimmt ihr eigenes Fach in die Pflicht. Die Psychologie steht vor einem Paradigmenwechsel, zu dem Myriam Thoma mit ihrer Forschung einen Beitrag leisten will. Die Perspektive des Fachs verschiebt sich von einem vornehmlich defizitorientierten Blick hin zu einer ressourcen- und kompetenzorientierten Perspektive. Dabei gewinnt die Positive Psychologie zunehmend an Einfluss. Sie will die Stärken und Potenziale fördern, die im Menschen schlummern, und Hand bieten, um konstruktiv mit Stresssituationen umzugehen und Krisen zu bewältigen.