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Neurobiologie

Anheizen im Oberstübchen

Kinder lernen spielend lesen. Doch nicht allen fällt es leicht, abstrakte Begriffe mit Sprache und Bedeutung zu verknüpfen. Die Neurobiologin Silvia Brem erforscht, was beim Lesenlernen im Gehirn passiert und wie Kindern mit Leseschwäche geholfen werden kann.
Simona Ryser
Lesen Kinder, wird in ihrem Hirn ein komplexes neuronales Netzwerk aktiviert. (Bild: Jos Schmid)

 

Lesen die Kinder in der Schule die Geschichte von den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen, wird ganz schön eingeheizt in ihren Oberstübchen. Allerdings sind es keine Heinzelmännchen, die Feuer schüren. Es ist ein komplexes neuronales Netzwerk, das im Gehirn aktiv wird.

Was im Gehirn von Kindern passiert, wenn sie ihre Fähigkeit zu lesen entwickeln, untersucht Silvia Brem. Sie ist Assistenzprofessorin für kognitive Neurowissenschaften im Kindes- und Jugendalter. Sie will wissen, wie sich die Hirnaktivität von Kindern mit einer Leseschwäche unterscheidet von solchen, die problemlos lesen und schreiben lernen. Dieses Wissen soll helfen, Leseschwäche möglichst früh zu erkennen und die betroffenen Kinder zu unterstützen.

Beim Gehirnfotografen

Die braunen Locken wippen, wenn das Mädchen, nennen wir sie Adelaide, zur Untersuchung geht. Im ersten Augenblick denkt man, sie statte Maria und Josef in ihrem Stall von Bethlehem einen Besuch ab. Tatsächlich steht ein ehemaliger Holzstall auf dem weitläufigen Gelände der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Im Innern aber trifft man nicht auf Esel und Ochs, sondern auf hochmoderne Gerätschaften und blinkende Bildschirme. Adelaide kennt den Ablauf schon. Zum ersten Mal war sie mit fünf, dann mit sieben beim Gehirnfotografen. Jetzt ist sie elf. Adelaide nimmt teil an der Langzeitstudie, die Silvia Brem mit ihrem Forschungsteam durchführt.

Als Adelaide noch klein war, hat sie mit einer Doktorandin ein Bilderbuch angeschaut, in dem der Bär Lexi beschreibt, wie die Untersuchung abläuft. Zuerst zieht sie eine Art Badekappe mit Kabeln an, die misst, wann die Nervenzellen im Kopf aktiv sind. In der MRT-Röhre werden dann Schnittbilder ihres Gehirns gemacht, während sie Aufgaben löst und einen Film schaut. Zur Belohnung darf sie am Schluss etwas aus einer Schatztruhe aussuchen, etwa Lego oder Perlenketten. Adelaide nimmt mittlerweile lieber den Büchergutschein.

Dyslexie, auch Lese- und Rechtschreibstörung genannt, wird frühestens in der zweiten Klasse, manchmal aber oft erst Jahre später erkannt. Das Kind hat Mühe beim Lesen – die Geschichte von den sieben Zwergen will nur langsam und stockend von den Lippen, während die Mitschülerinnen und Mitschüler bereits über die sieben Berge sind und weiterlesen. Die Lese- und Rechtschreibstörung wirkt sich meist auf die Leseflüssigkeit aus, deshalb ist es schwierig, auch noch den Sinn des Textes zu verstehen. Oft wird die Rechtschreibung zum Problem. Es kommt aber auch vor, dass ein Kind zwar nur mühsam liest, die Orthografie aber einwandfrei ist.

Nobelpreisträger mit Leseschwäche

Es kann ganz schön frustrierend sein, wenn eine frischgebackene ABC-Schützin in ihrem Elan erstmal ausgebremst wird. Das wirkt sich auf das Wohlbefinden aus: Schülerinnen und Schüler mit Dyslexie können emotionale und psychische, auch psychosomatische Störungen entwickeln. Sie haben es schwer in der Schule und später im Beruf, oft leiden sie ein Leben lang unter ihrer Schwäche. Dabei ist Dyslexie völlig unabhängig von der Intelligenz.

Berühmte Persönlichkeiten leiden an der Störung, etwa der letztjährige Schweizer Nobelpreisträger für Chemie Jacques Dubochet. Und auch Albert Einstein soll eine Lese- und Rechtschreibstörung gehabt haben. In der Schweiz ist mindestens ein Kind pro Klasse von Dyslexie betroffen. Silvia Brem hat sich mit ihrer Forschungsgruppe auf Kinder und Jugendliche spezialisiert. Sie will besser verstehen, was bei einer Leseschwäche im Gehirn vorgeht, um früh zu erkennen, wenn ein Kind betroffen ist. Dieses soll dann mit Trainings möglichst präzise unterstützt werden. Bereits im Vorschulalter arbeitet das Gehirn an der Lese- und Schreibkompetenz. Deshalb sind im Gehirn von Kindern, die später Probleme beim Lesen entwickeln, bereits Unterschiede sichtbar, wenn sie sprachliche Aufgaben lösen.

Mit Sprache spielen

«Aus die Maus» und andere Reime helfen dem Gehirn schon mal zusammenzufügen, was zusammengehört. Mit Sprachspielen wie «Heile, heile Segen, sieben Tage Regen» schulen die Kleinen ihr Gefühl für die Sprache. Aber auch Silben klatschen und Wörter rückwärts nachsprechen fördert das Lesen. «Kinder mit Dyslexie haben ein weniger starkes Bewusstsein für die lautliche Struktur der Sprache», erklärt Brem. Da folgt auf den Schnee nicht immer das Weh. Auch Laute den Schriftzeichen zuzuordnen, kann Mühe bereiten – diese Fähigkeit ist die Voraussetzung für die Automatisierung und das flüssige Lesen.

Um Dyslexie zu diagnostizieren, müssen Kinder Tiere, Figuren, Gegenstände, Farben rasch benennen. Ein Objekt schnell aus dem Gedächtnis abzurufen und rasch auszusprechen, ahmt gewissermassen das Lesen nach. Solche Tests erlauben zwar, die spätere Leseentwicklung vorherzusagen, doch diese Einschätzungen sind noch ungenau. Hier setzt Brem mit ihrer Grundlagenforschung an. Was aber geht nun in den kleinen Köpfen vor, wenn sie in der Schule die Geschichten von der kleinen Hexe oder Papa Moll und Co. kennenlernen?

Die Forschergruppe von Silvia Brem zeichnet mit bildgebenden Verfahren auf, wie das Gehirn geschriebene Wörter verarbeitet. Es wird erfasst, wann und wie lange und in welcher Region das Hirn aktiv ist. Während das Kind im MRT-Gerät liegt, werden auf einer Videobrille Wörter eingeblendet: See, Baum, Bär. Das Gehirn hat beim Lesen immer zwei Möglichkeiten, erklärt Brem. Entweder wird ein Wort direkt erkannt oder aber es muss in Einzelteile zerlegt und entziffert werden – was entsprechend länger dauert. Doch wenn ein neues Wort ein paarmal entziffert wurde, kann das Gehirn auch dieses bald direkt erkennen.

Lesen trainieren

Wenn Adelaide nun für die Untersuchung mit der Badekappe im MR-Tomografen liegt und auf dem Bildschirm das Wort «Bär» erscheint, lässt sich eruieren, auf welchem Weg ihr Hirn das Wort verarbeitet. Muss das Kind das Wort erst entziffern, ist vorwiegend das frontale Hirn aktiv. Erkennt es das Wort direkt, arbeitet das sogenannte visuelle Wortformsystem, welches das flüssige Lesen ermöglicht. Bei Kindern mit Dyslexie, die in der Regel langsam und stockend lesen, ist diese Gehirn region weniger beteiligt, umso mehr arbeitet das fron tale Hirn.

Seit dem letzten Treffen hat Adelaide intensiv gegamt. Das Spiel heisst GraphoLearn und wurde von Brem mit einer finnischen Forschergruppe der Universität Jyväskylä entwickelt. Eine erste Evaluation zeigt erfreuliche Resultate. Bereits nach acht Stunden Training werden Fantasiewörter genauer gelesen. Brem untersucht den Trainingseffekt genauer, um das Spiel präziser anzupassen.

Adelaide kommt aus der Holzscheune, das Handy mit der Lern-App verstaut sie in der Jackentasche. Auf dem Rücken tanzt der Schulranzen. In der Hand trägt sie einen neuen Büchergutschein.

 

Für die Studie der Leselern-App werden noch Teilnehmer gesucht. Mitmachen können Kinder mit deutscher Muttersprache ab Ende der 1. bis zur 3. Klasse sowie Kinder in der 5. Klasse. Studieninformation und Anmeldung: www.lexi.uzh.ch

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