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Bürgerkrieg in Sri Lanka

Zwischen Jagen, Steine klopfen und Skypen

Wie verändern drei Jahrzehnte Bürgerkrieg den Alltag der Menschen? Die Humangeografin Alice Kern untersucht diese Frage am Beispiel Sri Lankas. Ihr Beitrag zu «Transactions», dem Manifesta 11 Parallel Event der UZH, gibt Einblicke in das Leben der indigenen Bevölkerungsgruppe der Insel.
Thomas Müller
Überflutete Strasse nach dem Monsun
Monsun im Osten Sri Lankas: Starke Überschwemmungen der Hauptverkehrsstrasse während der Regenzeit führen dazu, dass der Zugang zu den nächsten Städten und nach Colombo für längere Zeit nur noch schwierig oder gar nicht mehr möglich ist.

Die Ostküste spiegelt die komplexen Umwälzungen in Sri Lanka besonders ausgeprägt. Das von Alice Kern untersuchte Gebiet dort – flächenmässig etwa so gross wie der Kanton Uri – ist das traditionelle Stammland der Küsten-Veddas. Darauf konzentriert sich die ethnografische Feldforschung ihres Dissertationsprojekts, bei dem sie auf die Zusammenarbeit mit den Universitäten in Peradeniya und Colombo sowie der Eastern University in Sri Lanka zählen kann. Die Veddas, wörtlich übersetzt Jäger, gelten als Ureinwohner Sri Lankas, die in prähistorischen Zeiten vom indischen Subkontinent her die Insel besiedelt haben sollen. Einer singhalesischen Überlieferung nach stammen die «Menschen aus den Wäldern», wie die Veddas auch genannt werden, von halb königlichem, halb göttlichem Blute ab.

Am unteren Ende der Gesellschaft

Die romantische Sage verschleiert die heutigen Realitäten. Die Bezeichnung Vedda steht nicht nur für eine ethnische, sondern auch für eine soziale Kategorie, deren Grenzen immer wieder neu verhandelt werden. «Die Veddas stehen häufig am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala – sei es innerhalb oder ausserhalb des Kastensystems», erklärt Alice Kern. Armut ist im lange unzugänglichen Gebiet weit verbreitet. Die Bildungsrate ist – für Sri Lanka ungewöhnlich – ausgesprochen tief. Hinzu kommen sprachliche Differenzen. Eine indigene Sprache gibt es kaum, viele Veddas sprechen tamilisch, die meisten singhalesisch.

Junge Vedda-Mutter mit Kind
Junge Vedda-Frau mit Kind: Auffallend in den Vedda-Dörfern sind die vielen jungen, noch nicht volljährigen Mütter, die oft nicht wissen, wovon sie ihr erstes Kind ernähren sollen.

Die Marginalität sah Kern mit eigenen Augen, als sie 2015 während neun Monaten die Insel erkundete, mit srilankesischen Assistierenden in die Dörfer fuhr, die örtlichen Ressourcen untersuchte und die Lebensstrategien analysierte. «Wir gehen hin, schauen, wie sie den Alltag meistern, leben mit den Leuten und lernen von ihnen», sagt sie. Die Annäherung braucht Zeit und Vertrauen. Sichtbar werden dabei die Geografien der Gewalt und der Politik – aber auch die Kraft der Mitmenschlichkeit und der Hoffnung. Sie spiegeln sich in alltäglichen Erlebnissen und Erzählungen. Der dreissigjährige Bürgerkrieg und dessen Ende im Jahr 2009 wie auch der Tsunami von 2004 liessen manche Dorfgemeinschaft in die Brüche gehen. Kern: «Zahlreiche Familien wurden auseinandergerissen und viele andere Beziehungen ebenfalls räumlich getrennt – inzwischen hat die Arbeitsmigration stark zugenommen.»

Verstreut in alle Welt

Die traditionellen Strukturen erodieren. Der Kapitalismus dringt seit einigen Jahren in das Gebiet ein, die Globalisierung wird spürbar. Eine Tochter arbeitet als Putzfrau in Colombo, ein Sohn vielleicht im Flughafen von Kuwait. Manche ziehen für ein paar Monate weg, andere für Jahre. Alle wissen um die Erwartung daheim, dass bald finanzielle Unterstützung und Geschenke eintreffen. Wer in den Dörfern bleibt, verkauft auf lokalen Märkten Fleisch, Honig und was die Natur sonst noch hergibt, oder verrichtet harte Taglöhnerarbeit. Alice Kern erinnert sich, wie ihr eine alte Frau in abgearbeiteten Händen enttäuscht den Tagesverdienst für stundenlanges Steineklopfen zeigte: nur 200 Rupien, umgerechnet Fr. 1.35. Für solch einfache Arbeiten verdienen andere in der Stadt das Sechsfache oder mehr. Oft sitzen ganze Familien vor dem Haus und klopfen Steine, auch Kinder, die eigentlich in die Schule gehörten – angetrieben von purer Not und der Hoffnung, damit den sozialen Status zu verbessern, aber auch als sichtbares Zeichen der Ausgrenzung vom Rest der Gesellschaft.

Alice Kern
Alice Kerns Forschung kann dereinst für die Planung von Entwicklungsvorhaben von Nutzen sein.

Grundlage für Entwicklungsprojekte

Stolz auf die Herkunft? Diese in der kargen Literatur über die Küsten-Veddas kolportierte Eigenschaft hat Alice Kern hingegen nicht wiedergefunden. «Viele Veddas wollen keine Veddas mehr sein», sagt sie. Sie versuchten, die Identität der «rückständigen, unzivilisierten Waldbewohner» abzustreifen, als die sie in der Mehrheitsbevölkerung noch immer gelten. Im kommenden Sommer wird Kern nochmals für zwei Monate Feldforschung vor Ort sein. Der Schweizerische Nationalfonds unterstützt das Projekt, dessen empirischen Erkenntnisse aus dem bürgerkriegsversehrten Osten des Landes dereinst für die Planung von Entwicklungsvorhaben internationaler Hilfsorganisationen von Nutzen sein können. Und es gibt ausgegrenzten Menschen, von denen selbst in Sri Lanka kaum jemand etwas weiss, eine Stimme.