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Ian Morris an der UZH

Am Scheitelpunkt der Menschheitsgeschichte

Welche Werte entwickelt eine Zivilisation und warum verändern sie sich im Laufe der Geschichte? Stanford-Archäologe Ian Morris blickte in seinem Gastvortrag an der UZH weit in die Menschheitsgeschichte zurück. Seine Bilanz: Wir stehen heute an einem Wendepunkt und müssen Fairness und Gerechtigkeit neu interpretieren.  
Marita Fuchs
Zur Zeit der Jäger und Sammler gab es mehr Gewalt als in der Moderne, erklärte Ian Morris in seinem Gastvortrag an der UZH. (Bild: Marcel Sauder)

Unsere nahen Verwandten, die Affen, haben einen Sinn für Recht und Unrecht. Kanadische Wissenschaftler konnten das in Experimenten mit Schimpansen nachweisen: Wenn die Affen dem Forscher einen Stein gaben, bekamen sie als Belohnung eine Schale mit Pfefferschoten. Diese Früchte mögen die Schimpansen gern, doch noch viel besser schmecken Tomaten. Als einige Affen für den Stein Tomaten bekamen, andere aber weiterhin Pfefferschoten, regierten einige der Tiere wütend und warfen den Wissenschaftlern die Schale mit den Pfefferschoten ins Gesicht.

Werte wie Fairness und Gerechtigkeit gehören seit Urzeiten auch zum Wertesystem des Menschen. Wir alle glauben an Fairness, Gerechtigkeit, Loyalität und Respekt. Doch je nach Zeitalter wurden diese Werte anders ausgelegt und interpretiert. «Jedes Zeitalter bekommt die Werte, die es verdient: Warum Tyrannei, Ungleichheit und Sexismus manchmal gerecht erscheinen», so der Titel des Vortrags, den der Historiker Ian Morris am vergangenen Donnerstag an der UZH hielt.

Morris ist einer der bekanntesten Geschichtsprofessoren der Gegenwart und lehrt an der renommierten Stanford University. Zudem unterrichtet er das Modul «Intercultural Management» im Executive MBA der Universität Zürich. Den Vortrag hielt er auf Einladung des Executive MBA und des MAS in Applied History. Er bezog sich dabei auf sein neuestes Werk, das 2015 erschienen ist: «Foragers, Farmers, and Fossil Fuels: How Human Values Evolve».

Gleich aber arm

Jäger und Sammler (Foragers), sesshafte Bauern (Farmer) und der moderne Mensch (Fossil Fuelers) unterscheiden sich nach Morris grundsätzlich voneinander. Der Unterschied besteht im Energieverbrauch, in der Konfrontation mit Gewalt und auch in der Interpretation von Gleichheit und Fairness. Als Beispiel für die Jäger und Sammler führte Morris die Hadza-Jäger Tansanias an. Sie leben in kleinen Gruppen, die Mitglieder der Gruppen sind gleichgestellt. Niemand besitzt mehr als der andere. Besser gesagt: Niemand besitzt viel. Die Gleichstellung zeigt sich unter anderem auch im Sexualverhalten. Männer wie Frauen leben in serieller Monogamie und wählen ihre Partner frei.

Hierarchie und Sexismus als Vorteil

Ganz anders einige hundert Kilometer weiter bei den Nyamwez-Bauern Tansanias. Morris führte sie als Beispiel für den sesshaften Menschen an, der ab 10‘000 vor Christus anfing, die Erde zu besiedeln. Die Bauern lebten in grösseren Gruppen als die Jäger und Sammler. Ihre Lebensweise schuf gesellschaftliche Strukturen, die Ungleichheit und Hierarchien förderten. Die bäuerliche Kultur domestizierte Tiere und nutzte Pflanzen, züchteten sie für den Anbau auf ihren Feldern. Meist herrschte der Mann – oft als Patriarch. Er herrschte als Familienoberhaupt über die Frau, als König oder Gruppenführer über bestimmte Gebiete und über Sklaven. Die ägyptischen Pharaonen galten als gottgleich, ihr Wort war Gesetz. Das patriarchalische und hierarchische Gesellschaftsmodell war effizienter als liberale Gesellschaftsmodelle und setze sich somit durch.

Gleichheit und Demokratie als Vorteil

Der moderne Mensch, von Morris «Fossil Fueler» genannt, nutzt fossile Brennstoffe in grossen Mengen. Sein Zeitalter begann vor 200 Jahren in Grossbritannien mit der industriellen Revolution und sein Wertesystem verbreitete sich von dort aus in der ganzen Welt. Die Fossil Fuelers leben in grossen Gesellschaften. Freie Entscheidungen, Redefreiheit, freie Märkte, Demokratie haben zum Erblühen dieser Gesellschaften geführt, auch die Gewalt hat insgesamt abgenommen. Trotz der zwei Weltkriege, den Völkermorden und Atombomben des 20. Jahrhunderts sind im Vergleich zu früheren Jahrtausenden lediglich 1 bis 2 Prozent der Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben. Anders bei den Jägern und Sammlern, hier starben etwa 10 Prozent durch Gewaltanwendung.

Und auch die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern hat bei den Fossil Fuelers zugenommen. Dass ein Zimmermädchen einen so mächtigen Mann wie Dominique Strauss-Kahn, IWF-Präsident und französischer Präsidentschaftskandidat, im Mai 2011 hat stürzen können, darüber hätte ein Mann im antiken Rom oder Athen wohl nur ungläubig und kopfschüttelnd gelacht, meinte Morris.

Neue Werte im Post-Fossil-Fuel-Zeitalter

Im Zeitalter der Fossil Fuels hätten sich bis heute die offenen, freien Gesellschaften durchgesetzt, so Morris. Das sehe man auch am Niedergang der ehemaligen Sowjetunion. Und für die Entwicklung Chinas prognostizierte er: China könne in der heutigen Zeit nur weiter wachsen, wenn es sich öffne und seine autoritären Strukturen abbaue. Insgesamt betrachtet stehe die Menschheit seiner Ansicht nach jedoch an einer Zeitenwende meinte Morris. Der enorme Energieverbrauch des modernen Menschen sei auf Dauer nicht mehr tragbar, eine Wende stehe bevor, das Post-Fossil-Fuel-Zeitalter werde neue Werte entwickeln, die unsere Zukunft prägen werden. Unter Umständen könnten es auch ganz andere Werte sein: Werte, die vielleicht wieder mehr Richtung Ungleichheit tendierten. Dann könnte unter Umständen China mit seinen hierarchischen Strukturen wiederum im Vorteil sein.   

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