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Wirtschaftsgeographie

Wider die ökonomische Logik

Die Ökonomisierung setzt sich immer stärker durch – mit drastischen Folgen, wie der Wirtschaftsgeograph Christian Berndt mit Beispielen aus der ganzen Welt belegt. Er fordert deshalb ein Umdenken.
Felix Wüsten
Frauen beim Bestellen ihrer Felder in Malawi: Was geschieht, wenn Bauern in Afrika nicht mehr für den Eigenbedarf, sondern für den Weltmarkt produzieren? Solchen Fragen geht Wirtschaftsgeograph Christian Berndt nach.

Die ökonomische Sichtweise nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Gesellschaft feiert einen wahren Siegeszug. Sie scheint kaum mehr aufzuhalten. Doch Christian Berndt, Professor für Wirtschaftsgeographie an der UZH, steht der Ökonomisierung aller Lebensbereiche kritisch gegenüber: «Die Ökonomen haben eine bemerkenswert geschlossene Vorstellung entwickelt, wie die Wirtschaft und letztlich auch wir Menschen funktionieren», erklärt er, «diese Gewissheiten möchte ich mit meiner Arbeit hinterfragen.»

Rational und eigennützig

Prägend für die heutigen Wirtschaftswissenschaften ist nach wie vor die neoklassische Schule. Diese geht davon aus, dass sich die Marktteilnehmer so verhalten wie der Homo oeconomicus, der stets rational handelt und eigennützig denkt. Allerdings wird der neoklassische Ansatz von verschiedener Seite zunehmend in Frage gestellt.

In jüngerer Zeit hat sich vor allem die Verhaltensökonomik als Alternative etabliert, konnte diese mit Experimenten doch zeigen, dass sich Menschen «irrational» verhalten und zuweilen auch altruistisch handeln.

Der Erfolg der Vehaltensökonomik kommt für Berndt nicht überraschend, bestehen doch bei näherer Betrachtung etliche Gemeinsamkeiten mit dem neoklassischen Mainstream. Deshalb tragen auch Vertreter dieser Richtung letztlich dazu bei, dass sich das ökonomistische Weltbild in immer mehr Bereichen erfolgreich durchsetzt – zum Beispiel an den Universitäten, wo heute Schlagwörter wie Wettbewerbsfähigkeit oder Studierendenmarketing zum alltäglichen Vokabular gehören.

Bemerkenswert findet Berndt diese Entwickung, weil die ökonomisch geprägte Sichtweise vieles ausblendet. «Es ist wie bei einem Eisberg: Der sichtbare Teil gehört gemäss der gängigen Lehre zum Markt. Der grosse Rest unter dem Wasser zählt hingegen nicht dazu und gilt demzufolge als vernachlässigbar.»

Blinde Flecken

Doch zu diesem unsichtbaren Teil gehört einiges, was für die Gesellschaft wichtig ist: unbezahlte Hausarbeit oder freiwillige Tätigkeiten etwa, aber auch traditionelle Wirtschaftsformen wie die gemeinsame Bewirtschaftung einer Allmend. All das wird von der Mainstream-Ökonomie in ihren Modellen ausgeblendet.

Ihn als Forscher interessiert nun: Wo verläuft die Grenze zwischen dem «sichtbaren» Markt und dem «unsichtbaren» Rest? Wie wird diese Grenze immer wieder neu gezogen? Und was geschieht, wenn diese Grenzen verschoben werden – zum Beispiel wenn soziale Institutionen wie Spitäler oder Schulen zu Konkurrenten auf dem Gesundheits- oder Bildungsmarkt werden oder wenn afrikanische Kleinbauern nicht mehr für den Eigenbedarf produzieren, sondern für den Weltmarkt?

Damit kein Missverständnis aufkommt: Berndt findet diese Ökonomisierung nicht per se schlecht, denn sie hat auch viele positive Aspekte. «Mir geht es darum, diesen Wandlungsprozess zu beleuchten, weil wir mit unserer verinnerlichten ökonomischen Denkweise immer wieder Gefahr laufen, Sachen, die nicht gemäss dieser Logik funktionieren, abzuwerten oder zu übersehen.» Genau diese reduzierte Sichtweise führt beispielsweise in der Entwicklungshilfe immer wieder zu Fehlschlägen.

Ein Beispiel dazu hat eine Masterstudentin in Jamaika dokumentiert. Dort versucht man, Kleinbauern mit Hilfe von indexbasierten Mikroversicherungen besser vor witterungsbedingten Schäden zu schützen. «Normale Versicherungen eignen sich für Kleinbauern nicht, weil es für die Versicherungsgesellschaften zu aufwändig ist, bei jedem einzelnen Bauern den Schaden zu erheben», erläutert Berndt. «Bei einer indexbasierten Mikroversicherung hin gegen wird beim Erreichen eines Schwellenwerts – beispielsweise die Unterschreitung einer gewissen Niederschlagsmenge – pauschal ein Betrag ausbezahlt, unabhängig vom tatsächlichen Schaden.»

Wissen, was das Beste ist

Für uns ist dieser Ansatz einleuchtend. Doch wie überzeugt man die Leute vor Ort, die vielleicht noch nie eine Versicherung abgeschlossen haben? Bei der Umsetzung des Vorhabens ergaben sich denn auch einige Probleme, die das Projekt erheblich verzögerten. Ähnlich wie bei anderen solchen Projekten gab es einerseits Unstimmigkeiten über den Grad der Marktorientierung, andererseits setzte man sich zu wenig damit auseinander, wie die betroffenen Haushalte mit Umweltrisiken bisher umgegangen sind. Oft haben diese bereits vorher gemeinschaftliche Lösungen entwickelt, um sich zu schützen.

Aber solche «traditionellen» Lösungen werden aus einer marktorientierten Perspektive nicht selten von vornherein als ineffizient und nicht zielführend beiseitegeschoben. Genau dieses Vorgehen findet Berndt problematisch: «Mir bereitet die Grundhaltung Mühe, wir im Norden wüssten, was für die Menschen im Süden das Beste ist. Denn dadurch wird das klassische Marktdenken unreflektiert auf immer mehr Bereiche übertragen – selbst wenn man sich auf einen verhaltensökonomischen Ansatz stützt.»

Das Verhalten steuern

Bei Entwicklungsprojekten etwa gibt es in der Regel gewisse Vorüberlegungen, wie man ein bestimmtes Problem lösen könnte. Wenn man dann beobachtet, dass die Betroffenen nicht das machen, was unserer Auffassung nach richtig wäre, versucht man, ihr Verhalten mit Anreizen zu beeinflussen. Dieses Vorgehen ist nicht per se negativ, hält Berndt fest: «Problematisch ist nur, wenn das zu einem unüberlegten Behavioral Engineering führt und man alles abwertet, das nicht der Marktlogik entspricht.»

Berndt untersucht mit seiner Gruppe im Detail, nach welchen Gesetzmässigkeiten solche Ökonomisierungsprozesse ablaufen. Welche Konzepte, welche mathematischen Formeln und welche Lösungsmuster werden angewendet, wenn Marktgrenzen verschoben werden? Was geschieht mit den betroffenen Menschen? Aber auch: Wie materialisiert sich dieser Prozess?

Denn Computerprogramme, technische Geräte oder Infrastrukturen beeinflussen das Verhalten der Menschen und prägen so den Ökonomisierungsprozess. Wie entscheidend die Materialisierung ist, zeigt sich in der Finanzwelt. Die finanzmathematischen Modelle wurden ursprünglich dazu entwickelt, Risiken zu minimieren. Doch inzwischen sind sie selbst ein Risikofaktor, weil sich die Banker bei ihren Entscheiden nach diese Modellen richten.

Berndt findet in der globalisierten Welt zuhauf Anschauungsunterricht, wie die Grenzen der Wirtschaft verschoben werden. Wenn im Norden Argentiniens auf dem bisher gemeinschaftlich genutzten Weideland plötzlich im grossen Stil Soja angebaut wird, wenn Keinbauern in Ghana anstatt Hirse plötzlich Mangos für den Weltmarkt anbauen, dann werden mit den Menschen ganze Regionen umgeformt – mit vielschichtigen sozialen Auswirklungen.

Migrantinnen machen Altenpflege

Auch vor der eigenen Haustür gibt es Beispiele, die sich Berndts Gruppe genauer anschaut. So dokumentiert Karin Schwiter mit einem Team, wie in den letzten Jahren in der Schweiz ein neuer Markt für die Altenpflege entstand, auf dem spezialisierte Pflegeagenturen ihre Dienstleistungen anbieten.

«Früher wurde von weiblichen Familienangehörigen erwartet, die Altenpflege unbezahlt zu übernehmen», erklärt der Forscher. «Nun wird diese Aufgabe zunehmend von externen Kräften gegen Bezahlung übernommen. Es sind vorwiegend Migrantinnen, die unter teilweise prekären Bedingungen arbeiten.» Auch in diesem Fall werden die bestehenden Verhältnisse umgeformt – mit entsprechenden sozialen Folgen.

Solche Vorgänge zu beleuchten, erfordert viel Detailarbeit, denn nur so kann man die Zusammenhänge auch wirklich verstehen. «Der Nachteil unserer Arbeitsweise ist, dass sich aus den einzelnen Beispielen nur schrittweise etwas Allgemeines ableiten lässt», räumt Berndt ein. «Aber wir sind nun so weit, dass wir die Einzelfälle in einen grösseren Rahmen stellen können.»

Gemeinsam mit Marc Boeckler von der Goethe-Universität Frankfurt ist er daran, in einer theoretisch orientierten Arbeit die grundlegenden Mechanismen herauszuschälen. «Was wir als ökonomisch sinnvoll betrachten, hängt immer davon ab, von welchen Annahmen und Rahmenbedingungen wir ausgehen», bemerkt er. «Genau diese Annahmen und Rahmenbedingungen wollen wir transparent machen – denn nur so kann man sie auch kritisch hinterfragen.»