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Jenische und Roma in der Schweiz

«Es gibt nach wie vor blinde Flecken»

Jenische mit fahrender Lebensweise sowie Sinti und Roma, früher als Zigeuner bezeichnet, wurden in der Schweiz lange diskriminiert. Der Historiker Thomas Meier von der Universität Zürich sagt im Interview mit UZH News, wie es dazu kam. Eine wissenschaftliche Tagung über die Lage der Roma in Europa findet am 26. Januar in Aarau statt. 
Interview: Marita Fuchs
Das «Scharotl» ist bis heute ein Symbol für die fahrende Lebensweise, auch wenn die Fahrenden in der Schweiz schon lange nicht mehr mit dem Planwagen unterwegs sind. Anonymes Bild aus 1920er-Jahren.

UZH News: Herr Meier, Fahrende ecken in der Schweiz immer wieder an. So weigerte sich eine Gemeinde erst kürzlich, einen vom Kanton bestimmten Standplatz einzurichten. Wieso geraten Sesshafte und Fahrende immer wieder in Konflikt?

Thomas Meier: Die Fahrenden standen seit der Gründung des Schweizerischen Bundesstaats 1848 im besonderen Fokus der Behörden, zunächst als sogenannt Heimatlose ohne Papiere, die entweder eingebürgert oder aber als unerwünschte Ausländer des Landes verwiesen wurden, dann als Bevölkerungsgruppe mit einer Lebensweise, die sich der vom Staat intendierten Sesshaftigkeit widersetzte, weshalb man ihr mit Misstrauen begegnete.

Damals wurden die Traditionslinien der schweizerischen Politik gegenüber Fahrenden für über 120 Jahre festgelegt: Ausländische Fahrende wurden nicht geduldet, und die einheimischen Jenischen sollten zu sesshaften und «nützlichen» Gliedern der Gesellschaft umerzogen werden.

Wie gingen die Behörden dabei vor?

Thomas Meier: Es lassen sich vier Phasen unterscheiden: Zuerst wurden die als Schweizer erachteten Fahrenden eingebürgert, was diesen die bürgerlichen Rechte und damit einen gewissen Schutz vor Willkür verschaffte. Gleichzeitig wurden sie jetzt aber auch in ihrer Lebensweise stärker behindert, zum Beispiel durch die Schulpflicht, das Verbot, Minderjährige auf der Reise mitzuführen, oder die schikanösen Gewerbepatentregelungen.

In einer zweiten Phase wurde auf Druck der Kantone die rigorose Abwehr ausländischer Zigeuner durchgesetzt, so dass der Bundesrat 1906 schliesslich ein allgemeines Einreiseverbot verhängte. Dieses wurde bis 1972 aufrechterhalten.

In der dritten Phase war es das private «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das – von den Behörden geduldet und unterstützt – von 1926 bis 1973 jenischen Eltern die Kinder systematisch wegnahm, mit dem Ziel, die sogenannte Vagantität zu beseitigen.

Zumindest auf Bundesebene wurde dann seit den 1970er Jahren eine Kehrtwende vollzogen, was sich in der Anerkennung der Fahrenden als nationale Minderheit niederschlug.

Galt die rigorose Abwehr auch in der Zeit der Verfolgung der Sinti und Roma durch das nationalsozialistische Deutschland?

Thomas Meier: Ja. Der prominenteste «Zigeuner», dem die Flucht in die Schweiz verweigert wurde, war der Jazz-Gitarrist Django Reinhardt, der nach Genf fliehen wollte. Er wurde an der Grenze abgewiesen und musste nach Paris zurückkehren, wo er aufgrund seiner Bekanntheit glücklicherweise unbehelligt blieb.

Untersucht die Geschichte der Fahrenden in der Schweiz: Historiker Thomas Meier.

Wie behandelt die Schweiz die Roma und Jenischen heute?

Thomas Meier: Aufgrund des rigiden Einreiseverbots für fremde «Zigeuner» bis 1972 gab es in der Schweiz praktisch keine Sinti und Roma, zumindest keine fahrenden.

Mit dem Zustrom von Arbeitskräften aus dem ehemaligen Jugoslawien und vor allem von Flüchtlingen infolge der dortigen Kriege in den 1990er Jahren kamen auch viele Roma in die Schweiz, die sich aber als solche meist nicht zu erkennen gaben und auch kaum auffielen.

Was schätzen Sie, wie viele Roma leben heute in der Schweiz, und wie werden sie behandelt?

Thomas Meier: Die Schätzungen über ihre Anzahl gehen sehr weit auseinander – von 30'000 bis 80'000. Kritisiert wurden jeweils die Entscheide des Bundes, die als Asylbewerber in der Schweiz lebenden Personen aus Ex-Jugoslawien – zu denen auch dort verfolgte Roma zählten – in ihre Heimat zurückzuschaffen, so etwa infolge des Rückübernahmeabkommens mit dem Kosovo 2010. Ob und gegebenenfalls wie viele Roma in der Zwischenzeit Asyl bekommen haben oder gar eingebürgert wurden, ist nicht bekannt.

Sind die Jenischen oder Roma heute als Minderheit anerkannt?

Thomas Meier: Seit 1998 sind die schweizerischen Fahrenden – nicht aber die Jenischen insgesamt oder die Roma – als Minderheit offiziell anerkannt. Ende der 90er Jahre gründete der Bund die «Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende» mit dem Zweck, die Lebensbedingungen der Fahrenden in der Schweiz zu sichern und zu verbessern. Dazu gehört insbesondere die Schaffung von mehr Stand- und Durchgangsplätzen.

2003 schliesslich wurde das Reisendengewerbegesetz in Kraft gesetzt, das die Ausübung ambulanter Gewerbe entscheidend erleichterte. Die alten und diskriminierenden kantonalen Hausierpatentgesetze wurden ersetzt durch ein einziges, in der ganzen Schweiz gültiges Patent.

Teilweise schwierig ist das Verhältnis zu den meist in grossen Konvois von mehreren Dutzend Fahrzeugen im Sommer durch die Schweiz ziehenden Roma aus dem nahen und fernen Ausland. Auch für diese Gruppe gibt es viel zu wenig Durchgangsplätze.

Heute können Jenische und Roma oftmals nicht mehr in traditionellen Berufen arbeiten. Haben sie neue Nischen gefunden?

Thomas Meier: Zweifelsohne sind in der modernen Gesellschaft viele ökonomische Nischen verschwunden, in denen sich Fahrende ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Dieses Argument wurde allerdings seit dem 19. Jahrhundert immer wieder ins Feld geführt. Und obwohl seither die ökonomische Entwicklung rasant vorangeschritten ist, finden viele Fahrende – in der Schweiz nimmt ihre Zahl übrigens eher zu als ab – nach wie vor ein Auskommen. Dazu trägt auch die heute viel grössere Mobilität bei.

Dennoch hat die oft prekäre ökonomische Situation auch dazu geführt, dass viele schliesslich dem Assimilationsdruck nachgaben und dauernd sesshaft wurden. So sind in der Schweiz diese sogenannten «Beton-Jenischen» längst in der Überzahl.

Immer wieder wird behauptet, die Fahrenden seien kriminell.

Thomas Meier: Diese Behauptung ist absurd, wird leider aber dennoch immer wieder aufgestellt. Straftaten werden meist von sogenannten Kriminaltouristen begangen.

Selbstverständlich sind solche Taten nicht tolerierbar und müssen verfolgt und geahndet werden. Sie sollten aber als das behandelt werden, was sie sind, und nicht dazu missbraucht werden, eine ganze Ethnie zu diskreditieren, wie dies in den Medien leider allzu oft geschieht.

Wie wurde die Geschichte des Verhältnisses der Schweiz zu den Fahrenden aufgearbeitet?

Thomas Meier: Die Geschichte der Fahrenden in der Schweiz ist vergleichsweise gut aufgearbeitet. Das gilt vor allem für die Aktion «Kinder der Landstrasse», zu der seit den 1980er Jahren mehrere Publikationen erschienen; dazu wird ferner gerade eine Dissertation fertiggestellt.

Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 51 «Integration und Ausschluss» wurden drei Projekte zu den Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz durchgeführt, deren Resultate teils auch für ein breiteres Publikum in Form von Ausstellungen und Büchern, aber auch in Form einer Website aufbereitet wurden.

Auch wenn schon vieles erforscht wurde, so gibt es nach wie vor blinde Flecken. So wissen wir nur wenig über die Geschichte der Fahrenden in der Schweiz vor 1800 oder über das Verhältnis der Bevölkerung zu den Fahrenden im konkreten Alltag auf lokaler Ebene.

Was ebenfalls fehlt, sind Untersuchungen zur Geschichte der Jenischen und der Roma in neuester Zeit.