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Historiker Niall Ferguson in Zürich

Europas Aufstieg – und Niedergang?

Der Westen ist nach seinem 500jährigen Aufstieg vom Niedergang bedroht, weil die asiatischen Länder die Erfolgsrezepte des Westens kopieren und dieser sie vernachlässigt. So die These des britischen Historikers Niall Ferguson. Am Montag hielt er in der vollbesetzten Aula der UZH einen Vortrag.
Theo von Däniken
Krise der Institutionen als eigentlicher Kern der Krise in Europa und den USA: Der Historiker Niall Ferguson sieht den Westen im Niedergang.

«Let Europe arise»: Um Churchills berühmte Worte an die akademische Jugend, gesprochen in der Aula der Universität Zürich 1946, kommt kaum herum, wer an ebendiesem Ort einen Vortag zum Thema Europa hält. 65 Jahre später stellte der streitbare Historiker Niall Ferguson, Professor in Harvard und Oxford, am Montag jedoch nicht die Frage nach dem Aufstieg, sondern nach dem Niedergang Europas.

Gegensätzliche Ansichten von der Zukunft Europas

Dass Ferguson das Scheitern der EU durchaus für möglich hält, erstaunt nicht. Hat er doch bereits vor zehn Jahren dem Euro eine wachsende Instabilität vorausgesagt, die sich 2010 akzentuiert. «I was right», meinte er lakonisch. Die gegensätzlichen Ansichten zur Zukunft Europas hätten sich am Davoser Weltwirtschaftsforum vor wenigen Tagen in den Auftritten des britischen Premiers David Cameron und in der deutschen Kanzlerin Angela Merkel klar umrissen gezeigt.

Frühere britische Regierungen bis zu Gordon Brown hätten jeweils das ökonomische Projekt Europa unterstützt, sich aber gegen das politische gewehrt, so Ferguson. Cameron hingegen begrüsse ein föderales Zusammenrücken Europas. Grossbritannien allerdings werde daran nicht teilnehmen. «Verblüffend logisch» sei das, «das ist neu für die britische Europa-Politik».

Missverständnisse von «tragischer Qualität»

Angela Merkel hingegen verkenne in geradezu «tragischer Qualität», was notwendig sei, um die wirtschaftliche und politische Situation in Europa zu stabilisieren. Zwar habe sie am WEF die Zukunft der EU gleichsam als eine «Bundesrepublik Europa» skizziert.

Doch Deutschland wehre sich gegen die konkreten Massnahmen, die notwendig seien, um eine solche Föderation zu gründen: nämlich eine Transfer-Union, die wirtschaftliche Ungleichheiten zwischen den Ländern ausgleicht, und europäische Anleihen. Im Gegensatz zu Grossbritannien mangle es der deutschen Position an Logik.

Krise der Institutionen

Doch Ferguson sieht die aktuelle Krise Europas viel tiefer begründet als in den aktuellen Stürmen an den Finanzmärkten und den riesigen Löchern in den Staatshaushalten. Über die demographischen Veränderungen, die die Sozialsysteme bedrohen, die Unterkapitalisierung der europäischen Banken, die grossen Divergenzen in der Produktivität der EU-Länder, schälte er Schicht für Schicht den seiner Ansicht nach eigentlichen Kern des Problems heraus: Die Krise der Institutionen und den Zerfall der Werte, die – so Ferguson – den Westen in den vergangenen 500 Jahren gross gemacht hätten: Wettbewerb, die wissenschaftliche Revolution, der Rechtsstaat, die Medizin, die Konsumgesellschaft und die Arbeitsethik.

Noch vor hundert Jahren waren die westlichen Länder die einzigen, die diese Werte und Prinzipien verfolgten. Doch der Rest der Welt sei ihnen gefolgt und wende diese Erfolgskriterien ebenfalls an, während der Westen derzeit dazu tendiere, sie zu zerstören. Fergusons Blick fiel dabei vor allem nach Asien: Ob Wettbewerbsfähigkeit, Bildung, Medizin, Konsum, Arbeitsethik: fast überall übertrumpften China oder andere asiatische Länder den Westen. Selbst in Sachen Rechtsstaatlichkeit liege beispielsweise Hong Kong bei 15 von 16 Indikatoren vor den USA.

From the west to the rest

Der Hintergrund, vor dem sich die europäische Krise abspiele, sei deshalb die grosse Verlagerung der wirtschaftlichen Macht vom Westen nach Osten, oder «from the west tot he rest», wie Ferguson in Anspielung auf sein Buch «Civilization: The West and The Rest» formuliert.

Für Europa und seinen Glauben an starke und ausgleichende staatliche Institutionen sieht er dabei weniger Hoffnung. Viel näher liegen dem liberalkonservativen Ferguson die USA, wo er den Glauben der Menschen an die Kraft des Individuums noch stärker ausgeprägt sieht. Die Frage sei nur: «Lässt sich ein Präsident finden, lässt sich eine Regierung finden, die umsetzen kann, was die normalen Amerikaner wollen?».

Welche Regierung für ihn die richtige wäre, hat er kürzlich mit seiner Unterstützung für den Republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney kundgetan. «Die Amerikaner machen immer das richtige – nachdem sie alle anderen Alternativen ausprobiert haben», zitierte er Winston Churchill. Vielleicht, so Ferguson, werde Amerika bereits in diesem Jahr damit beginnen.