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Kinder- und Jugendpsychiatrie

Der Zwang ist eine neunarmige Krake

Zwänge und Tics sind neuropsychiatrische Störungen, die einer sorgfältigen Abklärung und Behandlung bedürfen. Im Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich wird jungen Patienten geholfen, das «Monster im Kopf» zu bekämpfen.
Alice Werner

Es gibt Kinder, die nie auf die gelben Balken der Zebrastreifen treten, Jungen, die immer genau das Gegenteil dessen machen, was man ihnen aufträgt, und Mädchen, die sich zwanzigmal pro Tag umziehen. Andere pfeifen stundenlang oder ahmen Tierlaute nach. Sind das noch harmlose Rituale, Eigenheiten, Spleens – oder verbirgt sich hinter dem «komischen» Verhalten der Kinder eine medizinische Störung?

Ritual oder Zwang?

«Festgelegte Handlungen, zum Beispiel beim Aufstehen oder Zu-Bett-Gehen, die spielerische Wiederholung von Schritten, Wörtern oder Lauten, oder das Sortieren  von Spielsachen in einer bestimmten Reihenfolge gehören zur normalen Entwicklung eines Kindes », sagt Susanne Walitza vom Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich. «Über Häufigkeit und Rituale gewinnen die Kinder Sicherheit und lernen, sich im Alltag zu orientieren.» Werden bestimmte Tätigkeiten, Gedanken oder Impulse jedoch so übermächtig, dass sie sich nicht unterdrücken lassen und gegen den inneren Widerstand des Kindes ausgeführt werden müssen, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsstörung vor.

«Das Zwangsmonster»: In der Therapie lernt das Kind den Zwang als Störenfried und Eindringling zu betrachten.

«Bei ein bis drei Prozent aller Kinder und Jugendlicher treten Zwangshandlungen oder –gedanken auf.» Das können Fragerituale und Kontrollhandlungen sein, Symmetriezwänge oder häufiges Waschen, Zähneputzen, Ordnen und Zählen. Nicht selten bilden sich verschiedene Zwangssymptome gleichzeitig aus. Im Kanton Zürich sind nach epidemiologischen Schätzungen knapp fünftausend Kinder und Jugendliche von diesen Störungen betroffen, die oft als lästig, quälend, sogar sinnlos empfunden werden. Besonders schambesetzt und belastend für die Kinder und ihre Familien sind Zwänge mit sexuellen und (auto-)aggressiven Inhalten.

Zwangsstörungen treten häufig in Kombination mit sogenannten Tic-Störungen auf – das macht eine diagnostische Unterscheidung der beiden Krankheitsbilder schwierig. Bis zu zwölf Prozent aller Grundschulkinder zeigen vorübergehende Tic-Störungen: Motorische Tics wie Grimassieren, Augenblinzeln oder Kopfrucken – unwillkürliche, rasche, wiederholte Bewegungen – oder vokale Tics, bei denen das Kind plötzlich und ohne erkennbaren Zweck Worte, Geräusche oder Laute ausstösst. «Das kann von Zischen und Räuspern über Schnüffeln und Bellen bis zur stereotypen Wiederholung eigener Ausdrücke oder obszöner Wörter reichen», erläutert Susanne Walitza. Treten vokale und motorische Tics gemeinsam auf, spricht man vom Tourette-Syndrom. Jungen sind dabei häufiger betroffen als Mädchen: Das Verhältnis liegt bei etwa vier zu eins.

Gravierende «Nebenwirkungen»

Oft bessern sich Tic-Störungen ab dem zwanzigsten Lebensjahr oder verschwinden ebenso plötzlich, wie sie aufgetreten sind;  definitionsgemäss spricht man erst ab einer Dauer von über zwölf Monaten von einer chronischen Tic-Störung. Der eigentliche Tic ist dann nicht unbedingt der grösste Risikofaktor, viel beeinträchtigender sind in der Regel die begleitenden emotionalen und sozialen Störungen, etwa grosse Niedergeschlagenheit, Rückzugsverhalten, Aufmerksamkeitsstörungen – Faktoren, die zu Lernschwierigkeiten, Isolation, Selbstwertproblematiken bis hin zu völliger Leistungsunfähigkeit im Leben führen können.

Susanne Walitza: «Bei ein bis drei Prozent aller Kinder und Jugendlicher treten Zwangshandlungen oder –gedanken auf.»

Der Leidensdruck ist bei beiden Erkrankungen für Kinder und Eltern enorm: Soll sich die Familie den zwanghaft eingeforderten Ritualen des Kindes unterordnen, oder verstärkt dies gerade die Symptomatik? Wie soll eine Familie damit umgehen, wenn das Kind einen normalen Tagesablauf unmöglich macht? In Konfrontation gehen, Regeln aufstellen?

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Susanne Walitza kennt die schwierige Situation betroffener Familien aus zahlreichen Gesprächen, weiss, dass gerade familiärer Stress ein wichtiger Motor bei psychischen Störungen sein kann. Dennoch beginnen viele Kinder eine therapeutische Behandlung erstaunlich spät, bei Zwangsstörungen dauert es im Mittel zwei Jahre nach Beginn der Symptomatik bis die erste Behandlung erfolgt. Denn Zwangshandlungen werden häufig längere Zeit übersehen, fehlinterpretiert oder verheimlicht, und auch Tics können bis zu Stunden unterdrückt werden: «Vielen jungen Patienten ist es möglich, bis nach dem Schulunterricht zu warten, bevor sich dann im Kinderzimmer eine Tic-Salve sturmartig entlädt.»

Ungebetener Gast: Das Zwangsmonster

Dabei gilt wie bei jeder medizinischen Erkrankung auch hier: Je früher die Störung diagnostiziert und behandelt wird, desto besser die Heilungschancen. Das Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich bietet daher eine Spezialsprechstunde für Zwangserkrankungen und Tic-Störungen an. Nach einer ausführlichen klinischen Untersuchung und Diagnostik in Kooperation mit Eltern, Lehrern und den behandelnden Kinderärzten unterstützt das Beratungsteam betroffene Familien bei der Wahl weiterer Behandlungsmöglichkeiten.

«Verhaltenstherapie ist bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangs- oder Tic-Störungen die bestwirksamste Behandlung und Therapie der ersten Wahl», betont Walitza. Es gehe darum, der Familie therapeutisches Werkzeug zur Verfügung zu stellen, mit dessen Hilfe sie die Zwangsstörung langfristig in den Griff bekomme. Ein Hauptelement der Behandlung von Zwängen ist die Exposition mit Reaktionsverminderung: Dabei wird das Kind aufgefordert, sich einer angst- oder zwangsauslösenden Situation zu stellen – ohne die entsprechende zwanghafte Handlung auszuführen.

«Sich auf die erste Expositionsaufgabe einzulassen, kostet das Kind meist sehr grosse Überwindung», sagt Walitza. «Aber wenn es erlebt, dass das befürchtete Ereignis nicht eintritt, obwohl es sein Zwangsritual nicht ausgeführt hat, stellt sich meist rasch Besserung ein.» Positive Erfahrung hat die Medizinerin auch mit sogenannten Externalisierungstechniken gemacht, einem therapeutischen Verfahren, das das Kind anleiten soll, den Zwang als Eindringling, als Erpresser oder Monster zu betrachten, um sich besser gegen ihn zu wehren.

Gute Erfolge erzielen verhaltenstherapeutische Massnahmen auch bei der Behandlung von Tic-Störungen. Am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der UZH stützen sich die Therapeuten auf das sogenannte «Habit Reversal Training». Diese Methode macht sich zunutze, dass Betroffene vor dem Auftreten einer Tic-Serie häufig sensomotorische Vorgefühle wie beispielsweise ein auffälliges Kribbeln spüren. Susanne Walitza erklärt: «In der Spezialsprechstunde unterstützen wir Kinder, ihre Wahrnehmung zu schulen, um den Tic vor Auftreten mit einer gezielten Gegenreaktion auszubremsen.» Dies kann eine motorische Gegenbewegung zur Tic-Reaktion sein, die für ein bis zwei Minuten aufrecht erhalten wird.

Die Erfahrungen, die Susanne Walitza und ihr Beratungsteam im Rahmen der Spezialsprechstunde gemacht haben, sind vielversprechend: «Wenn es gelingt, die Motivation des Patienten aufrecht zu erhalten, die Eltern und Bezugspersonen in die Therapie einzubeziehen und gute Umsetzungsstrategien für den Alltag zu entwickeln, sind die Prognosen sehr gut.»

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