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Teilchenphysik

Startschuss zur Jagd auf Neutrinos

Neutrinos gehören zu den rätselhaftesten Teilchen, mit denen sich die Physik beschäftigt. Nun sollen die kaum aufspürbaren Winzlinge im Felslabor im Gran Sasso in Italien ihr grösstes Geheimnis preisgeben.
Theo von Däniken

In den Laboratori Nazionali del Gran Sasso, rund 1400 Meter unter dem Gipfel des Corno Grande im italienischen Gran-Sasso-Massiv, haben am Dienstag Forschungsgruppen aus mehreren Ländern den Germanium Detector Array (GERDA) offiziell eröffnet. Mit GERDA soll der Beweis gelingen, dass Neutrinos gleichzeitig ihre Anti-Teilchen sein können, wie die am Experiment beteiligte Physikprofessorin Laura Baudis von der Universität Zürich erklärt. Dies hätte weitreichende Konsequenzen auf Theorien, mit denen die Astrophysik heute den Ursprung des Universums erklärt.

Riesige «Thermoskanne»: Die Germanium-Detektoren hängen in einem Tank mit flüssigem, -196° Celsius kaltem Argon, um vor Strahlung geschützt zu sein.

Die noch ungelöste elementare Frage lautet: Weshalb gibt es überhaupt Materie und damit ein Universum? Beobachtungen in Teilchenbeschleunigern würden nämlich die Vermutung nahelegen, dass beim Urknall genausoviel Antimaterie wie Materie entstand, die sich beide gegenseitig vernichtet, annihiliert hätten. Geblieben wäre: ein Universum aus Strahlung und ohne Materie.

Klein, schnell und spurlos

Wie wir wissen, blieb aber mehr Materie als Antimaterie übrig, genug mithin, um die zig Milliarden Galaxien unseres Universums zu bilden. Doch wie kam es zu dieser Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie? In den heute gängigsten Theorien dazu spielen Neutrinos eine entscheidende Rolle. Die winzigen Teilchen sind fast masselos, bewegen sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit und treten kaum in Wechselwirkung mit anderen Teilchen; das heisst, sie bewegen sich weitgehend unbemerkt unter ihnen – dabei sind sie nach den Photonen die häufigsten Teilchen überhaupt.

Vom Urknall ins Felslabor: Das GERDA-Experiment anschaulich erklärt (in Englisch).

Die kosmologischen Theorien setzen darauf, dass die Neutrinos eine besondere Eigenschaft aufweisen: Die Teilchen müssen gleichzeitig ihre Anti-Teilchen sein, sich also gegenseitig annihilieren können. Ein solches Postulat widerspricht jedoch dem Standardmodell der Physik. Es wurde in den dreissiger Jahren vom italienischen Physiker Ettore Majorana aufgestellt und konnte bisher nicht bewiesen werden.

Doppelter Zerfall

Diesen Beweis soll GERDA nun liefern. Genauer: Mit GERDA soll der so genannte neutrinolose Doppel-Beta-Zerfall nachgewiesen werden. Beim einfachen Beta-Zerfall wandelt sich im Atomkern ein Neutron in ein Proton um. Dabei werden ein Elektron sowie ein Neutrino freigesetzt. Die beim Zerfall frei werdende Energie verteilt sich auf das Elektron und das Neutrino.

In einigen Materialien ist aus Gründen der Energie-Erhaltung ein einfacher Beta-Zerfall nicht möglich. In diesen Materialien, beispielsweise 76Germanium, tritt der doppelte Beta-Zerfall auf. Dabei wandeln sich gleichzeitig zwei Neutronen in zwei Protonen um und setzen zwei Elektronen sowie zwei Neutrinos frei.

Nadelspitze im Datenhaufen: Wenn ein neutrinoloser Doppel-Beta-Zerfall stattfindet, müsste eine charakteristische Linie in der Energieverteilung (Pfeil) messbar sein.

«Wenn Neutrinos tatsächlich gleichzeitig ihre Anti-Teilchen sind, so müssten sich diese beiden Neutrinos gegenseitig vernichten können», erklärt Baudis. Es käme eben zu einem neutrinolosen Doppel-Beta-Zerfall. Um diesen nachzuweisen, muss die Energie der beim Zerfall entstehenden Elektronen sehr genau gemessen werden. Entspricht sie der Gesamtenergie des Zerfallsprozesses, bedeutet dies, dass keine Energie an Neutrinos abgegeben wurde, weil sich die Neutrinos gegenseitig annihiliert haben.

Totale Abschirmung

Unter normalen Bedingungen wären solche Messungen ein Ding der Unmöglichkeit. Denn die natürliche radioaktive Strahlung, die von der Umwelt ausgeht, überdeckt die Strahlung des Beta-Zerfalls. Auch die kosmische Strahlung auf der Erdoberfläche würde die Messresultate stören.

Die 1400 Meter Kalkgestein des Gran-Sasso-Massivs, unter denen das Labor liegt, bilden jedoch einen ziemlich guten Schutzschirm gegen die kosmische Strahlung. «Die Detektoren befinden sich zudem in einem Tank mit flüssigem, hochreinem Argon», erklärt Baudis. Das Argon schirmt die Germanium-Detektoren zusätzlich gegen radioaktive Strahlung aus der Umgebung ab. Zudem ist der Argon-Tank seinerseits in einem grossen Wassertank eingelassen. Dieser ermöglicht es, die wenigen noch auftretenden kosmischen Strahlungen zu identifizieren und aus den Messungen herauszufiltern.

Kosmische Strahlenfalle: Der Argon-Tank ist in einen mit spezieller Folie ausgekleideten Wassertank eingelassen, um die Reste kosmischer Strahlung aufspüren zu können.

Hochpräszise Messungen

Mit dieser Vorrichtung sollte es möglich sein, die Untergrundstrahlung soweit zu unterdrücken, dass sie die Messresultate nicht überdecken oder verfälschen. Bereits seit Juni laufen Tests, um die Messgeräte zu kalibrieren, an denen das Labor von Baudis führend beteiligt ist. «Es geht darum, die Zuverlässigkeit der Instrumente zu prüfen und herauszufinden, ob sie anfällig auf Schwankungen sind.»

Die Zerfallsenergie muss höchst präzise bestimmt werden, um daraus auf einen neutrinolosen Zerfall schliessen zu können. So werden Ergebnisse aus einem früheren Experiment deutscher und russischer Physiker, die einen neutrinolosen Doppel-Beta-Zerfall bereits nachgewiesen haben wollen, als zu wenig zuverlässig kritisiert und sind unter Physikern nicht allgemein anerkannt.

Seltene Ereignisse

Die Messinstrumente müssen zudem über eine längere Zeitdauer verlässlich arbeiten. Denn die Beta-Zerfälle sind äusserst selten. In einem zwei Kilogramm schweren Block aus reinem 76Germanium tritt gerade mal ein Zerfall pro Jahr auf. Die erste Messreihe von GERDA ist deshalb auf einen Zeitraum von zwei Jahren ausgelegt. Baudis hofft, dass dabei etwa 15 Zerfälle gemessen werden können.

«15 Zerfälle in zwei Jahren»: Physikerin Laura Baudis hofft auf genügend Daten, um klare Aussagen machen zu können.

Bessere Detektoren, an deren Entwicklung Baudis ebenfalls beteiligt ist, sollen in einer zweiten Phase die Empfindlichkeit erhöhen und genauere Messungen ermöglichen. Denn sollten die Neutrinos weniger Masse aufweisen, als bisher angenommen, kann es sein, dass sie den GERDA-Detektoren entschlüpfen. Die neuen Detektoren werden es ermöglichen, Neutrinos mit kleineren Massen zu erfassen.

Sollte GERDA der Nachweis des neutrinolosen Doppel-Beta-Zerfalls nicht gelingen, so erhoffen sich die beteiligten Forschenden immerhin, mit GERDA die Masse der Neutrinos genauer eingrenzen zu können. «Damit», so Baudis, «könnten wir eine der noch vielen Unbekannten in den kosmologischen Modellen auflösen. Das würde unser Verständnis von der Entstehung des Universums weiter klären.»