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Carlo Salvioni

Ein Wörterbuch im Kopf

Carlo Salvioni (1858 bis 1920) gilt als zentrale Figur der Tessiner Dialektforschung. Nun liegen seine Schriften erstmals in einer fünfbändigen Gesamtausgabe vor. Herausgegeben hat sie der Zürcher Linguistik-Professor Michele Loporcaro.
Roger Nickl

Carlo Salvioni war ein wissenschaftlicher Schwerarbeiter. Jeweils um vier Uhr morgens stand er auf, ordnete seine Unterlagen, archivierte und forschte. Salvioni, 1858 in Bellinzona geboren, 1920 in Mailand gestorben, gilt als wichtigster Tessiner Linguist der Vergangenheit und als eine der zentralen Figuren in der Gründungsphase der italienischen Dialektologie. Unter dem Titel «Carlo Salvioni – Gli scritti linguistici» wird das Schaffen des Schweizer Sprachwissenschaftlers nun erstmals in seiner ganzen Breite dokumentiert.

Michele Loporcaro: «Salvioni war ein steinharter Vertreter der junggrammatischen Schule.»

Entstanden ist unter der Leitung von Michele Loporcaro, Professor für romanische Sprachwissenschaft und Dialektforscher an der Universität Zürich, und unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds und vom Kanton Tessin ein fünfbändiges, rund 4'600 Seiten umfassendes linguistisches Monument. Die dicken, rot-braunen Bände machen nicht nur die wichtigsten Schriften Salvionis besser zugänglich, sondern sie beleuchten auch in Aufsätzen ein engagiertes Forscherleben in seiner Zeit.

«Methodischer Hardlinier»

Carlo Salvioni kam auf Umwegen zur Linguistik. Zuerst begann er ein Medizinstudium an der Universität Basel, wechselte dann aber nach Leipzig und gleichzeitig von der Medizin zur Linguistik. Leipzig war damals die Hochburg der junggrammatischen Schule. Die Junggrammatiker betrachteten die Sprache aus einem naturwissenschaftlich geprägten Blickwinkel. Sie untersuchten deren geschichtliche Entwicklung auf Grund sprachimmanenter Lautgesetze – der soziale und kulturelle Hintergrund der Sprecher dagegen hatte für sie keinen Erklärungswert.

Diese Position trug den Junggrammatikern die unerbittliche Kritik ihrer damals zahlreichen Gegner ein. «Obwohl Salvioni seinem Naturell entsprechend kritische Einwände immer überprüfte und seine eigene Position hinterfragte, war er ein steinharter Vertreter der junggrammatischen Schule», sagt Michele Loporcaro, «und er war ein methodischer Hardliner.»

Der Sprachforscher aus dem Tessin war der erste italienischsprachige Linguist, der die Leipziger Schule durchlief. Nach seiner Rückkehr in den Süden übte der spätere Mailänder Professor einen grossen Einfluss auf die Entwicklung der Sprachwissenschaft in Italien und im Tessin aus.

Tessiner Mundarten

Carlo Salvionis Herz schlug für die Dialektforschung. Mit dem methodischen Rüstzeug, das er sich in Deutschland erworben hatte, im Rucksack untersuchte er nicht nur den Mailänder Stadtdialekt wie in seiner Dissertation, sondern der Sprachforscher durchkämmte auch die gesamte Tessiner Dialektlandschaft. Er besuchte die Dörfer in den Südschweizer Tälern, sprach mit den Menschen und machte 1913 – ganz auf der technischen Höhe seiner Zeit – im Auftrag des Phonogrammarchivs der Universität Zürich die ersten Tonaufnahmen von Tessiner Mundarten.

Mit Akribie beschrieb der Mailänder Professor so zahlreiche Dialekte von Bellinzona über das Misox bis nach Poschiavo. «Es gab zu seiner Zeit niemand anders, der so viel über die Tessiner Mundarten wusste wie Carlo Salvioni», ist Michele Loporcaro überzeugt. Daneben beschäftigte sich der umtriebige Linguist etwa mit der Ortsnamenforschung, er erforschte die Etymologie italienischer Wörter und er untersuchte schriftliche Zeugen mittelalterlicher Dialekte. «Salvioni war unglaublich gelehrsam», sagt Loporcaro, «er hatte ein riesiges Wörterbuch im Kopf.»

Noch heute gefragtes «Vocabulario»

Über die Grenzen der Linguistik hinaus einen Namen machte sich Carlo Salvioni als Gründer des «Vocabolario dei dialetti della Svizzera Italiana». Das Tessiner Wörterbuch, das 1907 ins Leben gerufen wurde, stand in der Tradition des damals bereits bestehenden «Glossaire des patois galloromans» und des Schweizerischen Idiotikons und machte sich zur Aufgabe, den ganzen Wortschatz der Tessiner Dialekte zu dokumentieren.

Das «Vocabolario» wird bis heute in Bellinzona weitergeführt und es erfreut sich nach wie vor grosser Popularität im Schweizer Südkanton – es ist, wie Michele Loporcaro weiss, das Idiotikon mit den im Schweizer Vergleich meisten Abonnenten. «Im Tessin besteht ein grosses Interesse an den Dialekten», sagt der Zürcher Sprachforscher, «das Festhalten am Dialekt ist identitätsstiftend und es dient zur Abgrenzung gegenüber der italienischen Lombardei, wo es nur noch sehr wenige Dialektsprecher gibt.»

Mit der Herausgabe der Schriften Salvionis hat Loporcaro und sein Team nicht zuletzt die lebendige Auseinandersetzung mit der Tessiner Mundart bereichert. Von der Gesamtausgabe erhofft sich der Zürcher Linguist, dass sie Salvionis Einfluss auf die aktuelle italienischsprachige Dialektforschung weiter erhöht. Thematisiert wurde das Schaffen des Tessiner Linguisten bereits an zwei Tagungen, die das Romanische Seminar unterstützt von der Zürcher Hochschulstiftung, Pro Helvetia und dem Kanton Tessin Ende letztes Jahr in Bellinzona und am Istituto Svizzero in Rom zum 150. Geburtstag Salvionis organisierte.

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