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Hausarztmedizin

«Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Einzelteile»

Mit einem Symposium wird am Samstag das Institut für Hausarztmedizin eröffnet. Zürich folgt damit einer Entwicklung, die sich in vielen Ländern schon länger zeigt. Institutsleiter Thomas Rosemann erklärt im Interview mit UZH News, warum der Hausarztmedizin ein fester Platz in der Medizinerausbildung eingeräumt werden muss.
Marita Fuchs

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Thomas Rosemann: «Den Studierenden wird leider oft ein falsches Bild von der Hausarzttätigkeit vermittelt.»

UZH News: Herr Professor Rosemann, Sie sind Leiter des neuen Instituts für Hausarztmedizin. Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?

Wir haben das Problem, dass immer weniger Studierende Hausarzt oder Hausärztin werden wollen. Unser primäres Ziel ist es natürlich mehr Studierende für die Tätigkeit zu begeistern. Das wird uns nicht bei allen gelingen, das ist klar, aber wir möchten zumindest das Verständnis für die anspruchsvolle Arbeit des Hausarztes erhöhen.

Warum entscheiden sich so wenig angehende Mediziner, Hausärztin oder Hausarzt zu werden?

Tja, provokativ könnte man sagen, diagnostisches Denken und beratendes Gespräch werden schlechter vergütet als – manchmal unreflektiert erbrachte – technische Leistungen. Und es besteht in unserer Gesellschaft eine hohe Achtung vor dem Spezialistentum, während man den Generalisten weniger zutraut.

Leider wird den Studierenden oft ein falsches Bild von der Hausarzttätigkeit vermittelt. Man sollte ihnen schon während der Ausbildung bewusster machen, dass über neunzig Prozent der Patienten in der ambulanten Versorgung betreut werden. Die grosse Herausforderung dabei ist, dass auch relativ häufige Erkrankungen in der Hausarztpraxis selten sind, also etwa nur wenige Patienten mit Herzschmerzen wirklich einen Herzinfarkt haben. Wenn aber eine Krankheit selten ist, sind auch die entsprechenden diagnostischen Tests weniger aussagekräftig: Das Elektrokardiagramm (EKG) wird also eine geringere Trefferquote haben. Das ist eine mathematische Gesetzmässigkeit, die vielen nicht bewusst ist, aber für jede Diagnostik gilt.

Patienten, welche die Studierenden am Universitätsspital zu Gesicht bekommen, sind dagegen «selektionierte» Patienten, die in der Regel schon durch mehrere Praxen gegangen sind. Oft sind sie aufgrund einer untypischen Symptomatik durchs so genannte «diagnostische Fenster» gefallen. Dann heisst es in der Vorlesung: «Der Infarkt des Patienten wurde vom Hausarzt nicht erkannt.» Auf diese Weise entsteht ein negatives Image.

Besteht tatsächlich ein diagnostisches Manko bei den Hausärzten?

Nein, Hausärzte haben eine hohe Trefferrate, wenn ich das so salopp sagen darf. Das hat erst jüngst eine Schweizer Studie bewiesen: Über ein Jahr wurden in 59 Hausarztpraxen insgesamt 24.650 Konsultationen dokumentiert. 672 Patienten kamen wegen «Herzbeschwerden», nur 85 hatten wirklich eine Durchblutungsstörung der Herzkranzgefässe. Nach einem Jahr hat man die Patienten noch einmal untersucht und gesehen, dass die Hausärzte bei keinem eine kardiale Erkrankung übersehen hatten. Alle Herzleiden wurden richtig diagnostiziert.

Sie haben einen Lehr- und Forschungsauftrag. Mit einem Forschungsetat von 30‘000 Franken im Jahr können Sie jedoch keine weiten Sprünge machen. Wo setzen Sie zuerst an?

In der Forschung sind wir natürlich auf Drittmittel angewiesen, aber die Einwerbung klappt ganz gut. In der Weiterbildung werden wir ab Januar 2010 mit Unterstützung der Gesundheitsdirektion ein Curriculum starten, das eine lückenlose fünfjährige Facharzt-Weiterbildung ermöglicht, mit einem Abschlussjahr in einer Hausarztpraxis. Das war bisher nicht so.

Untersuchung: Das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt ist nach wie vor entscheidend.

Der Hausarzt war ein Synonym für Verlässlichkeit, Diskretion, Treue, Hilfsbereitschaft und erschien selbst bei Nacht und Nebel, stimmt das heute noch?

Ja. Das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Hausarzt ist nach wie vor sehr wichtig. Zwar wird der Hausarzt nicht unbedingt allein durch Nacht und Nebel zum Kranken reisen, denn er wird in Zukunft wohl hauptsächlich im Team arbeiten und sich die Arbeit mit Anderen teilen. Das heisst, dass er Therapien koordiniert und zum Beispiel mit Ernährungsberatern, medizinischen Praxisassistenten oder Physiotherapeuten zusammenspannt. In unserer immer älter werdenden Gesellschaft wird die Hausärztin oder der Hausarzt der wichtigste Ansprechpartner des Patienten sein, er wird im Hinblick auf sinnvolle oder nicht sinnvolle Behandlungen umfassend beraten.

Wie sieht das konkret aus?

Nehmen Sie das Beispiel einer 80-jährigen Patientin mit typischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Osteoporose und Arthrose. Die Frau müsste – nach den Leitlinien der einzelnen Spezialisten – nun zu fünf Tageszeiten 15 Medikamente einnehmen und 20 weitere, nichtmedikamentöse Therapie-Empfehlungen befolgen. Das können wir unseren Patienten nicht zumuten. Der Hausarzt muss in solch einem Fall gemeinsam mit der Patientin Prioritäten setzen und die Lebensqualität und individuellen Bedürfnisse des Einzelnen im Auge haben. Schliesslich ist der Mensch mehr als die Summe seiner Einzelteile.

Immer mehr Menschen leben immer länger, die Zahl der chronisch Kranken steigt: Welche Rolle spielen die Hausärzte?

Die Betreuung chronisch Kranker ist die Domäne des Hausarztes. Gerade hier braucht es Koordination, Abwägung und mehr als Tabletten allein. Hier muss der Arzt eine Verschlechterung des Zustandes vermeiden, denn heilen im eigentlichen Sinne kann er nicht mehr. Studierende werden auf diese Aufgabe zu wenig vorbereitet. Das gilt auch für die Betreuung Sterbender.

Sie arbeiten eng mit dem Hausarztzentrum in Nijmegen (Niederlande) zusammenarbeiten. Was machen die Niederländer besser als wir?

In den Niederlanden hat der Hausarzt eine herausragende und gesellschaftlich hoch anerkannte Stellung. Er ist immer erste Anlaufstelle, ein «gate-keeper» und entscheidet, ob eine Überweisung zum Spezialisten notwendig und sinnvoll ist. Auf universitärer Ebene wird die Entwicklung und Forschung im Bereich der Hausarztmedizin stark beobachtet und gefördert. So arbeiten zum Beispiel viele Hausärzte parallel zu ihrer Tätigkeit in Hausarztpraxen als Ph.D.-Studenten an der Universität. Wir haben in Zürich ein ähnliches Programm gestartet und veranstalten seit letztem Jahr auch eine gemeinsame «Summer-School», um die Forschung international zu verknüpfen.