Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

 

Gemeinsinn statt cooler Egoismus

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Schweiz sind einfühlsam, verantwortungsbewusst und anstrengungsbereit. Diese positive Bilanz konnte aufgrund einer Langzeitstudie mit über 3'000 Heranwachsenden in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz gezogen werden. Professorin Marlis Buchmann, Leiterin des Jacobs Centers für Productive Youth Developement, stellte gestern auf einer Pressekonferenz die Ergebnisse im Detail vor.
Marita Fuchs

Inwieweit Kinder und Jugendliche in der Schweiz soziale Kompetenzen wie Mitgefühl oder Verantwortungsbereitschaft besitzen und wie anstrengungsbereit oder teamfähig sie sind, wurde erstmals in der Langzeitstudie COCON (Competence and Context) an der Universität Zürich untersucht. Im Sommer diesen Jahres wurde die erste grosse Befragungswelle abgeschlossen. Insgesamt ergab sich, dass die Heranwachsenden die besten Entwicklungschancen haben, wenn sie – unterstützt von einer vertrauensvollen Beziehung zu den Eltern – viele Freiräume erhalten. So zeigte sich beispielsweise, dass Kinder, die nicht ausschliesslich in der Kernfamilie betreut werden, mehr Mitgefühl zeigen als Kinder, die ausschliesslich in der Kernfamilie aufwachsen.

Besser als ihr Ruf. Jugendliche sind in einem hohen Mass einfühlsam und verantwortungsbewusst.

Motivierte Befragte

Befragt wurden 6-, 15- und 21-jährige Kinder und Jugendliche. Die drei Alterstufen stehen für drei prototypische Stadien des Aufwachsens: die mittlere Kindheit, die Adoleszenz und das späte Jugend- und beginnende Erwachsenenalter. Neben den Kindern und Jugendlichen wurden als wichtigste Bezugspersonen auch Eltern und Lehrpersonen befragt. Die Leiterin der Studie, Soziologieprofessorin Marlis Buchmann, zeigte sich auf der gestrigen Pressekonferenz erfreut über die hohe Beteiligung. Achtzig Prozent der Angefragten hatten sich zur Mitarbeit bereit erklärt. Damit haben vier von fünf angefragten Familien an der Studie teilgenommen beziehungsweise werden noch teilnehmen, denn die Gruppe der 6- und 15-Jährigen wird vom Forscherteam um Buchmann weiterhin auf ihrem Lebensweg begleitet. Die Studie wird fortgesetzt, um die Ergebnisse zu verdichten und noch offene Fragen zu klären. Finanzielle Unterstützung erhält das Projekt von der Jacobs-Stiftung und dem Schweizer Nationalfonds.

Ungerechtfertigte Vorurteile

Drei Grund-Kompetenzen wurden genauer untersucht: sozial-emotionale Kompetenz wie Mitgefühl, soziale Kompetenz wie Verantwortungsübernahme und produktive Kompetenz wie Anstrengungsbereitschaft. Die letztere sowohl als Motivation «sich anstrengen zu wollen» und als Einstellung «fleissig zu sein». Die Ergebnisse zeigen, dass Heranwachsende in der Schweiz ein hohes Mass an Mitgefühl zeigen. Vor allem zwischen Kindheit und Adoleszenz konnte ein starker Zuwachs an Mitgefühl festgestellt werden. Auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sei gross, sagte Marlis Buchmann. Das entspreche nicht dem Vorurteil vom egoistischen und coolen Jugendlichen, das in den Medien verbreitet werde. Jugendliche, die kaum Mitgefühl zeigten, gebe es auch, aber dies sei nur eine kleine Minderheit von zwei bis drei Prozent.

Kinder wurden anhand von Spielsituationen befragt. 6-Jährige Mädchen und Jungen sind etwa gleich mitfühlend, allerdings steigt diese Kompetenz bei den Mädchen bis zum 16. Lebensalter viel stärker an.

Fleissige Mädchen

Die so genannte produktive Kompetenz wurde mit der Bereitschaft zu Anstrengung und Leistung ermittelt. 15-jährige Mädchen schätzen sich als wesentlich anstrengungsbreiter ein als gleichaltrige Jungen. Dieser Geschlechterunterschied ist bei den 21-Jährigen wieder ausgeglichen. Buchmann wertet das als ein Zeichen dafür, dass junge Männer erst in einem anderen als dem schulischen Umfeld echte Leistungsbereitschaft zeigen. Vor allem das Eingebettetsein in die Klasse und das Lob des Lehrers oder der Lehrerin in der Schule scheint für die Anstrengungsbereitschaft entscheidend zu sein.

Musizieren für die soziale Kompetenz

Die Studie untersuchte zudem den Einfluss ausserschulischer Lern- und Erfahrungsräume. Bisher wusste man wenig darüber, welche Erfahrungsräume zu welchem Zeitpunkt besonders wichtig für die positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen seien, meinte Marlis Buchmann. Die Studie konnte nun belegen, dass die emotionale Verbundenheit zwischen Eltern und Kindern sehr wichtig und prägend sei, und zwar für alle Kinder der drei untersuchten Wachstumsstufen.

Insbesondere eine Erziehungshaltung, die dem Kind neue Lern- und Lebenswelten erschliesse, fördere das Mitgefühl von Kindern. Auch die Freizeitgestaltung ist wichtig für die soziale Kompetenzentwicklung. Musizieren etwa wirke sich sehr positiv auf die Entwicklung von sozialer Kompetenz aus. In der Adoleszenz zeigen diejenigen Jugendlichen hohes Mitgefühl, die gemeinsam mit Gleichaltrigen Aktivitäten unternehmen, so Buchmann. In der jungen Erwachsenenphase wiederum übernehme der Aufbau intimer Beziehungen eine wichtige Entwicklungsfunktion.