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Jugendforschung

Zwischen Dekonstruktion und Segelurlaub

Wie werden wir erwachsen? Für die Life-Studie wurden in den frühen 80er-Jahren Jugendliche erstmals zu ihrem Leben und ihren Zielen befragt. Was ist aus den Teenagern von damals geworden, wo stehen sie heute, 20 Jahre später?
Simona Ryser

Die Teenager der 80er-Jahre sind erwachsen geworden. Die Life-Studie der Universitäten Zürich und Konstanz hat ihre Entwicklung verfolgt.

Vor 20 Jahren habe ich mir zum ersten Mal die Wimpern getuscht und die Augenlider nachgezogen. Während die Jungs auf dem Schulhof Fussball gespielt haben, bin ich mit meinen Freundinnen auf einer Bank gesessen und habe mir das Leben ausgemalt. Wir wollten Fotomodel werden oder Grafikerin, Autorin oder Tierärztin, Dekorateurin oder Buchhändlerin. Die Jungs mit dem Ball auf dem Schulhausplatz haben wir belächelt, fürs richtige Leben wollten wir einen cooleren Kerl haben. Einen zum Reden. Und Küssen sollte er können. So waren damals unsere Jugendträume. Heute, 20 Jahre später, stehen wir mitten in einem Leben. Ob es dasjenige ist, das wir uns als Teenager ausgemalt haben, wissen nur unsere Tagebücher, die wir nie mehr aus den Zügelkisten gepackt haben.

Darüber, wie sich so ein Leben entwickelt haben könnte, gibt eine Langzeitstudie der Universitäten Zürich und Konstanz Auskunft. Von 1979 bis 1983 wurden in einer ersten Studie unter der Projektleitung von Helmut Fend, Professor für pädagogische Psychologie an der Universität Zürich, rund 2000 Jugendliche mehrmals befragt, um den schwierigen Übergang von der Kindheit ins Jugendalter zu erforschen. Untersucht wurden unter anderem die Risiken dieses Übergangs, die Veränderungen im Eltern-Kind-Verhältnis, die neue Bedeutung der Gleichaltrigen und die Vorstellungen von der Zukunft.

Nach der Auswertung dieser Jugendstudie ruhten die Ergebnisse zunächst einmal. Die Karriere führte Helmut Fend von Konstanz ans pädagogische Institut in Zürich. Dort ging er zuerst anderen Forschungsprojekten nach. Doch die Jugendlichen gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. «Ich habe seit 1976 an diesem Projekt gearbeitet. Es ist gewissermassen mein Lebensprojekt, das Schicksal einer Generation exemplarisch für das Aufwachsen in der Moderne zu erforschen», sagt der Wissenschaftler, der von den Befragten wie von seinen eigenen Kindern spricht. Schliesslich gelang es ihm, an der Universität Zürich ein Team für eine Folgestudie zu begeistern.

Querschläger und wilde Biographien

Nach rund 20 Jahren, im Jahre 2002, sollten die damals Befragten wieder aufgesucht und erneut befragt werden. Allein für die Adressrecherche brauchten die Forscher drei Jahre. Mit Hilfe von alten Klassenlisten, Auskünften von Eltern, Geschwistern und Klassenkameraden konnten sie die meisten ehemaligen Jugendlichen wieder ausfindig machen. Und dank unzähligen persönlichen Gesprächen, Telefonaten und einem ansprechenden Fragebogen gelang es dem Team, das Vertrauen eines grossen Teils der Probanden zu gewinnen. So nahmen 82,4 Prozent ein zweites Mal an der Befragung teil. Die Teenager von damals sind nun erwachsen geworden, sie sind zwischen 34 und 37 Jahre alt, ihre Eltern stehen im Pensionsalter.

Bereits bei der Adresssuche zeichneten sich die unterschiedlichsten Lebensverläufe der ehemaligen Teenager ab. Querschläger, wilde Biographien und Outsider fallen durch das statistische Erhebungsnetz: Doch gerade solche Lücken führten zu intensiveren Recherchen. Dank des breiten Kontaktfeldes erhielt das Forscherteam Hinweise zu vermissten Personen. Darunter gab es auch einige dramatische Fälle. «Wir sind auf einige Tote gestossen» erzählt Fend, «fünfzig konnten wir identifizieren: drei sind ermordet worden, zwei sind in einem Krieg umgekommen, und es gibt mehrere Drogentote und auch Drogenkranke.»

Drei Jahre lang also wurden die verlorenen Kinder gesucht. Genauso lange wurde an den Fragen gearbeitet. Sie sollten die verschiedensten Lebensbereiche abdecken. Wann die Jugendlichen von zuhause ausgezogen seien, wurde etwa gefragt, welchen Schulabschluss sie erreicht haben, wie ihre berufliche Entwicklung verlaufen ist, welchen Beruf sie ausübten und ob und wann sie geheiratet haben. Auch wann sie das erste Mal Sex hatten, wollten die Forscher von den Probanden wissen.

Die Life-Studie ist eben erst abgeschlossen worden; das umfangreiche Material muss nun ausgewertet werden. Die Forschung verspricht sich Aufschluss darüber, wie prägend die Erfahrungen in der Jugendzeit für das spätere Leben ist. «Wir wollen vor allem wissen, welche Erlebnisse, Erfahrungen und Erziehungsbedingungen im Elternhaus und in der Schule sich positiv auf die Kinder auswirken», sagt Fend. «Wir wollen herausfinden, welches die bestmöglichen Bedingungen sind für eine möglichst produktive Lebensbewältigung.» Nicht alle aber stehen mühelos imLeben. Untersucht wurden auch die Bedingungen von schwierigen Entwicklungsprozessen.

Supertramp und Netz-T-Shirt

Es war eine schöne Zeit, damals, Anfang der 80er-Jahre. Trotz pubertärer Widrigkeiten: Mit Wind im Haar auf dem fahrenden Mofa und Supertramp im Ohr haben wir uns eine schöne Zukunft erträumt. Meine Schulkollegin mit dem Netz-T-Shirt wollte etwas mit Kindern machen. Ihre Freundin hatte sich immer Schulterpolster in den Pullover geschoben. Sie wollte Psychologin werden. Der Junge mit der zu grossen Brille wusste zwar nicht, was er werden wollte, aber von seiner zukünftigen Frau hatte er eine genaue Vorstellung. Eine mit langen, blonden Haaren und mit sanften Augen sollte es sein.

Wünsche sind in Erfüllung gegangen – teilweise. In der Life-Studie wurde untersucht, ob Mädchen mit Matur auch eine entsprechende berufliche Karriere machen. «Gymnasiastinnen, die bei der ersten Befragung in der neunten Schulstufe waren, haben zwar noch die Matura gemacht, aber nur ein Viertel haben auch ein Hochschulstudium abgeschlossen», erklärt Fend. Es habe sich gezeigt, dass Mädchen für eine Hochschullaufbahn besonders intelligent und leistungsbereit sein müssen und dass sie ein besonders hohes Selbstvertrauen brauchen. Die Studie zeigt, dass gerade die hoch qualifizierten Frauen einen sehr diskontinuierlichen Weg in höhere Berufspositionen durchlaufen, während die befragten Männer viel kontinuierlichere Laufbahnen aufweisen.

Seit der historischen Wende von 1978/79 – damals gab es erstmals mehr Gymnasiastinnen als Gymnasiasten – sind Frauen in höheren Bildungsniveaus zwar stärker vertreten. Doch von der Gleichstellung während der Ausbildungszeit spüren die Frauen in ihrer Karriere oft nicht mehr viel. Fend wollte aus seiner Umfrage die erfolgreichsten Frauen ermitteln, jene also, die es in die höchste Berufskategorie geschafft haben. «Ich bin gerade auf etwa 50 Frauen gestossen. In derselben Gruppe aber habe ich viermal mehr Männer gefunden, obwohl die Frauen vom Ausbildungsstand her gleich gut qualifiziert waren.» Die feministischen Debatten haben anscheinend doch vor allem in den Köpfen stattgefunden – auf die Arbeitsstrukturen haben sie sich nicht nachhaltig ausgewirkt. Zumindest zeigt auch die Life-Studie, dass sich Familien- und Berufslaufbahnen noch immer schlecht verbinden lassen.

Die Forscher haben auch die sozialen Beziehungen erforscht. Eine überraschend grosse Gruppe, nämlich 30%, hat den ersten Freund geheiratet. Da bin ich doch froh, dass ich mich mit meiner Freundin so lange gestritten habe, bis wir den ersten beide nicht mehr wollten. Auch sonst gehöre ich nicht zur grossen Mehrheit: etwa die Hälfte der befragten Frauen mit Matura ist verheiratet, 90% sind in einer festen Partnerschaft. Allerdings sind auch 170 oder 10 Prozent das erste Mal, 11 schon das zweite Mal geschieden. Nein, Kinder hab ich keine, auch viele meiner Freundinnen haben keine oder genauer: noch keine. Diese Tendenz lässt sich auch in der Life-Studie ablesen. «Mehr als die Hälfte der höher gebildeten Frauen verlegt die Phase des Kinderkriegens in den Lebensabschnitt zwischen 35 und 40. Das ist unterdessen keine Ausnahme mehr, zumindest in dieser sozialen Gruppe.» Die ehemaligen Jugendlichen haben inzwischen etwa 1700 Kinder bekommen. 45% der Frauen mit Matura, die 35 oder älter sind, haben noch keine Kinder. Von ihnen möchten 50% aber noch welche haben.

Revolutionäre Pille

Wir wollten nicht das kleinbürgerliche Leben unserer Eltern leben, eine Partnerschaft schon, aber vielleicht in einer offeneren Form? Kinder ja, aber im Konkubinat. Meine Freunde haben dann doch noch geheiratet, heimlich, zumindest unspektakulär. Der Junge mit der zu grossen Brille trägt unterdessen eine kleine rechteckige. Er ist Pressesprecher geworden und hat eine Blondine geheiratet. Die Gesellschaft hat sich doch verändert – kein Familienzwang, keine Altersnormen. Klasse und Stand, Schall und Rauch. Die befragten Jahrgänge profitieren von den sozialen Freiheiten, die die 68er-Generation erwirkt hat. Die grösste Freiheit, so Fend, betrifft aber die Kontrazeption. «Die Pille war die grosse Revolution für die Veränderung von Wertorientierung.» Die Tendenz, dass Frauen heute später Kinder kriegen, macht dies deutlich.

Im grossen Ganzen erweist sich die untersuchte Generation eher als unauffällig. «Im Vordergrund steht die individuelle Lebensbewältigung im beruflichen und im sozialen Bereich», erklärt Fend. Die heutigen Mittdreissiger nutzen die Errungenschaften der modernen Gesellschaft vor allem im sozialen Bereich, weniger aber im Beruf. Die Life-Studie zeigt eine erstaunliche Standardisierung der Lebensläufe. «Es findet kein auffallend häufiger Berufswechsel statt. Vielmehr finden wir klare Muster von Ausbildungsverläufen», sagt Fend, «die entsprechenden Ausbildungen und die Erwartungen der Wirtschaft und der anderen Beschäftigungsbereiche geben das ja auch immer noch so vor.» Bei der sozialen Entwicklung haben sich die Möglichkeiten aber tatsächlich vergrössert. Auch wenn viele der Befragten heute verheiratet sind, hat die Zahl der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften vor allem bei urbanen, gut ausgebildeten Frauen und Männern zugenommen.

So sind wir also erwachsen geworden, ohne dass es uns gross aufgefallen wäre. Wir sind nun liiert, verheiratet oder geschieden, mit oder ohne Kind. Mit Berufen zwischen Denken und Kunst, Sozialarbeit und Journalismus, Kulturund Bildung. Beruflich sind wir glücklich, finanziell aber erfolglos. Oder umgekehrt. Nach den politischen Generationen der 68er und 80er und vor der «Generation Golf» pendeln wir zwischen Dekonstruktion und gutem Essen, politischem Engagement und Segelurlaub, zwischen Mozart und Johnny Cash. Und manchmal fällt uns auf, dass es auch noch Jüngere gibt, die schon weit im Leben stehen. Und ab und an revoltiert die Jugend in uns: Dann schreien wir Zeter und Mordio. Dann wollen wir nicht mehr lösungsorientiert und kompromissbereit diskutieren – denn einiges sollte noch verändert und umgestürzt werden. Und abends dann, in der Lounge, hören wir den Remix von Supertramp.

Simona Ryser hat sich in den frühen 80-er Jahren das erste Mal die Wimpern getuscht. Heute ist sie Autorin, Hörspielregiesseurin und Sängerin.

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