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Gesellschaft

Kein Abschied vom Nationalstaat

Hat die Idee nationaler Souveränität eine Zukunft? Kann man das Demokratiedefizit der EU beheben? Lässt sich verhindern, dass die massgebenden Entscheidungen in Zeiten der Globalisierung zunehmend ausserhalb demokratisch gewählter Institutionen getroffen werden? Fragen wie diese waren Gegenstand eines grosse Bögen schlagenden Vortrages, den der Sozialwissenschaftler und Politiker Lord Ralf Dahrendorf am 21. Juni an der Universität Zürich hielt.
David Werner

The Rt Hon Lord Ralf Dahrendorf

Die jüngsten Wahlen zum Europaparlament hätten wieder einmal gezeigt, wie schwach im Allgemeinen das Interesse an Europa sei, sagte Ralf Dahrendorf gestern vor grossem Publikum. Ein europäisches Staatsvolk, das habe man einmal mehr erkennen können, gebe es nicht. Deshalb werde die Europäische Union in absehbarer Zeit auch nicht zu plausiblen demokratischen Strukturen finden. Der Lord - seines Zeichens Mitglied des britischen Oberhauses - bezweifelte generell, dass inter- und übernationale Organisationen demokratischen Ansprüchen jemals gerecht werden könnten. Wirkliche Demokratie sei nach wie vor nur im Rahmen des Nationalstaates möglich. Dieser, sagte Dahrendorf, sei längst nicht so antiquiert, wie immer wieder behauptet würde. Für die Europäer sei der Nationalstaat die zentrale politische Bezugsgrösse. «In dem Masse, in dem der Nationalstaat als Raum des politischen Handelns an Bedeutung verliert, müssen wir Einschränkungen im Hinblick auf demokratische Institutionen und Verfahren hinnehmen», sagte er.

Skeptischer Europäer

Dahrendorf, deutsch-britischer Doppelbürger, bezeichnet sich selbst als «skeptischen Europäer». Er stammt aus Hamburg und lebt seit Jahren in Grossbritannien, wo er unter anderem Rektor am St. Antony's College in Oxford und Direktor der London School of Economics war. Für sein umfangreiches sozialwissenschaftliches Werk wurden ihm zahlreiche akademischen Würden verliehen. Jüngst ist er in den deutschen Orden Pour le Mérit aufgenommen worden. Als «leidenschaftlichen Parlamentarier» bezeichnete er sich zu Beginn seines Vortrags selbst. Er beobachte mit Sorge, dass im Zuge der Globalisierung immer mehr Entscheidungen jenseits der Nationalstaaten und damit auch jenseits der demokratischen Kontrolle gefällt würden. Wenn etwa Wirtschaftsunternehmen mit ihren Standortentscheiden mehr Einfluss auf das Wohl und Weh in den einzelnen Regionen ausüben könnten als die Politik, sei dies eine sehr ernst zu nehmende Herausforderung an die Demokratie.

«Glokalisierung»

Eingeladen zu Dahrendorfs Auftritt in Zürich hatten das Zentrum für Vergleichende und Internationale Studien der Universität Zürich und der ETH sowie das Swiss Centre for Studies on the Global Information Society (SwissGIS). Der Titel des Vortrages lautete: «Glokalisierung: die doppelte Herausforderung an die Demokratie.» Mit dem Begriff «Glokalisierung», so erläuterte Dahrendorf, sei sowohl Globalisierung als auch die gleichzeitige Tendenz zum resignierten Rückzug aufs Lokale und Überschaubare gemeint. Diese Tendenz schade der Bürgergesellschaft. Rückzug sei die falsche Reaktion auf die Tatsache, dass immer mehr Entscheidungen nicht mehr im Rahmen von Nationalstaaten gefällt würden, sondern in einen diffusen, demokratisch nicht mehr kontrollierbaren Raum abwanderten. Dieser Entwicklung dürfe man nicht tatenlos zusehen.

Blanke Willkür verhindern

Dahrendorf, obwohl alles andere als ein Europa-Euphoriker, vertrat in Zürich die Überzeugung, dass internationale Organisationen wie die EU unabdingbar seien, wenn man «die Verfassung der Freiheit» nicht an den Grenzen des Nationalstaates aufhören lassen wolle. Die wichtigste Funktion der EU sieht Dahrendorf enstprechend darin, dass sie staatsübergreifend für Rechtssicherheit sorge. «Die Europäische Union ist eine institutionelle Mixtur, die man nicht demokratisch nennen kann, die aber verhindert, dass jenseits der Nationalstaaten die blanke Willkür herrscht», sagte er.

Insofern, meinte Darendorf, könne die EU durchaus als Vorbild für andere internationale Organisationen dienen. Der Anspruch, solche Institutionen durch und durch demokratisch gestalten zu können, sei zu hoch gegriffen; die Durchsetzung von «rule of law», der Herrschaft des Rechtes, sei ein realistischeres Ziel. Nachdrücklich plädierte Dahrendorf dafür, einerseits die Grenzen der Demokratisierbarkeit internationaler Organisationen nüchtern ins Auge zu fassen, andererseits aber ihre wichtige Funktion bei der Herstellung von Rechtssicherheit anzuerkennen. «Internationale Institutionen», so fasste er seine Gedanken zusammen, «bieten weniger als Demokratie, aber immerhin mehr als Willkür.»

David Werner ist Redaktor des unijournals und freier Journalist.