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Geschichte

Auf nach Rom

Migration ist ein Stresstest für die Gesellschaft. Das war auch früher so, weiss Historiker Sebastian Scholz – fünf Lehren aus der Zeit der «Völkerwanderung» und des frühen Mittelalters, die unseren Umgang mit dem Thema verbessern können.
Brigitte Blöchliger
Illustration eines Römerhelms mit Stickern von Urlaubsdestinationen
Bewerber mit hoher Reisebereitschaft bevorzugt: Über den Dienst in einer römischen Legion konnten sich zahlreiche germanische Krieger sozial besserstellen. (Illustration: Anna Sommer)

«Fremde», die an Europas Aussengrenze Einlass begehren, sind kein neues Phänomen. «Schon das Römische Reich erlebte ab Mitte des 3. Jahrhunderts einen starken Migrationsdruck, die so genannte Völkerwanderung», sagt Mittelalterhistoriker Sebastian Scholz. Auch die germanischen Reiche wurden oft von herumziehenden fremden Verbänden herausgefordert. Da stellt sich die Frage: Wie verhielten sich die Römer, als die zahlreichen «Barbari» (lateinisch für «Ausländer») auftauchten? Wie gingen die Franken mit den von ihnen besiegten Völkern um? Wie die Mauren mit den Visigothen?

Migration akzeptieren

Natürlich lassen sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragen. Trotzdem kann die Kenntnis historischer Migrationsprozesse zu einem besseren Verständnis der heutigen Migrationskrise beitragen, ist Scholz überzeugt. Seit 2022 engagiert er sich am UZH Zentrum für Krisenkompetenz, an dem Wissenschaftler:innen aus allen sieben UZH-Fakultäten die Ursachen, Verläufe und Konsequenzen von Krisen erforschen und den Erfolg von Lösungsansätzen analysieren. Mit Blick in die Vergangenheit lassen sich fünf Lehren für den gegenwärtigen Umgang mit Migration ziehen.

Krisen interdisziplinär erforschen

Das UZH Zentrum für Krisenkompetenz (CCC) erforscht die Ursachen, Verläufe und Konsequenzen von Krisen und den Erfolg von Lösungsansätzen. Es bringt die verschiedenen Kompetenzen aller sieben Fakultäten der UZH im Umgang mit Krisen zusammen und erforscht interdisziplinär, wie sich Handlungswissen aus unterschiedlichen Forschungsbereichen nutzbar machen lässt.

UZH Zentrum für Krisenkompetenz

Zunächst räumt Scholz mit dem Begriff «Völkerwanderung» auf, da dieser ein falsches Bild der bewegten Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter zeichne. «Die Germanen, Goten oder Franken, waren multiethnische Verbände, keine einheitlichen Völker», sagt er. Die verschiedenen Stammesverbände veränderten sich dynamisch, formierten sich zu Grossverbänden, zogen manchmal als Reiterkrieger plündernd durch die Lande, sie spalteten sich auf, vermischten sich mit anderen, heirateten und zogen weg.

Sebastian Scholz

Die Germanen, Goten oder Franken, waren multiethnische Verbände, keine einheitlichen Völker. Migration war im Mittelalter völlig normal.

Sebastian Scholz
Historiker

«Das waren schon im Mittelalter äusserst komplexe Vorgänge», weiss der Historiker. Selbst Bauern blieben nicht immer auf ihrer Scholle sitzen. Aus Listen des 9. Jahrhunderts ist zu erkennen, dass Bauern, die Ländereien der Kirche bewirtschafteten, weiterziehen und anderswo von neuem anfangen konnten, was von der Güterverwaltung begünstigt wurde, um den Boden optimal zu nutzen. Auch Bettler waren recht mobil. «Migration war im Mittelalter völlig normal», so Scholz. Damit liesse sich die erste Erkenntnis aus dem Frühmittelalter für einen entspannteren Umgang mit der heutigen Migration formulieren:

1. Die heutige Migration ist weder neu noch übermässig ausgeprägt. Im Frühmittelalter war es normal, dass kleinere und grössere Gruppen von Menschen migrierten.

Hoffnung auf ein besseres Leben

Wirtschaftsmigration war in der Spätantike verbreitet. Das Römische Reich stellte einen hochattraktiven Arbeitsmarkt dar. «Viele wollten dort hin und profitieren», erzählt Scholz. Die Römer reagierten in der Regel pragmatisch auf die Fremden, doch blieb eine gewisse Skepsis ihnen gegenüber bestehen.  Trotzdem erfüllte sich die Hoffnung der Migrierten auf ein sicheres und besseres Leben grösstenteils. Die Römer machten wohltemperierte Zugeständnisse; so erlaubten sie fähigen Ausländern, aufzusteigen und vor allem militärisch wichtige Funktionen zu übernehmen – ohne den Wohlstand der Einheimischen dadurch zu schmälern.

Nach einer gewissen Dienstzeit erhielten erfolgreiche «Barbari» das römische Bürgerrecht oder zumindest eine abgespeckte Variante davon. Denn am meisten waren die Römer auf kriegstüchtige Auswärtige zur Sicherung ihrer 7500 Kilometer langen Grenzen angewiesen. So setzte beispielsweise Kaiser Konstantin der Grosse die kriegserprobten Terwingen, die später in den Visigothen aufgingen, als Hilfstruppen für den Grenzschutz ein. Als Gegenleistung erhielten sie Geldzahlungen und Zugang zum Handel. Auch im Frühmittelalter waren nach dem Untergang des Weströmischen Reichs (476) gewisse Fachkräfte gefragter als andere. Schmiede fanden in dieser kriegerischen Zeit überall Arbeit.

Ab dem 6. Jahrhundert, als die ersten Wassermühlen gebaut wurden, wurden Leute gesucht, die sie bedienen konnten. Auch Fernhändler, die bis nach Indien und auf die Philippinen reisten, brauchte man, wie eine Zollliste aus dem Jahr 716 des Hafens von Marseille belegt. Vom weitverbreiteten Austausch und Handel schon in römischer Zeit zeugen zahlreiche römische Münzen, die selbst in Regionen gefunden wurden, die nie römisch besetzt waren, sagt Scholz. Was wir daraus lernen:

2. Bereits in der Spätantike wurde der Fachkräftemangel durch Zuwanderung gelöst. Die Aussicht auf Bürgerrechte und sozialen Aufstieg förderte die Integration.

Verträge einhalten

Dass man sich besser an Abmachungen hält, mussten die Römer bitter erfahren. Als die Römer die Visigothen, die vor den Hunnen in römisches Gebiet geflohen waren, nach Thrakien umsiedelten und dabei Vereinbarungen nicht einhielten, zogen diese schwer bewaffnet gegen die Römer; der oströmische Kaiser Valens unterschätzte sie – und wurde vernichtend geschlagen. «Die Schlacht von Adrianopel im Jahr 378 war eine der katastrophalsten Niederlagen des römischen Heeres überhaupt», berichtet Scholz.

Der oströmische Kaiser Theoderich besann sich notgedrungen wieder auf den bewährten Pragmatismus und schloss mit den siegreichen Visigothen einen Vertrag ab: Sie erhielten als «foederati» Siedlungsgebiete an der unteren Donau, im Gegenzug übernahmen sie dort den Grenzschutz für die Römer. Das zeigt:

3. Faire Abkommen führen zu Win-win-Situationen für Ansässige wie Zugezogene.

Friedliche Koexistenz

Über den Dienst in einer römischen Legion konnten sich zahlreiche germanische Krieger sozial besserstellen. Strategisch begabte und führungsstarke Ausländer stiegen sogar bis an die Spitze des römischen Heers auf. Viele von ihnen waren alles andere als tumbe Haudegen, sondern passten sich den gebildeten Römern an, lernten Latein und übernahmen den römischen Lebensstil. «In der Spätantike sprachen die Söldner im römischen Heer Latein», erzählt Scholz.

Auch die muslimischen Mauren hatten mit der Strategie der Koexistenz zunächst Erfolg, als sie ab 711 auf die Iberische Halbinsel vorrückten und das Herrschaftsgebiet der christlichen Visigothen besetzten. Obwohl sich die Mauren in Aussehen, Religion, Sitten und Gebräuchen sehr von den unterlegenen Visigothen unterschieden, lebten Besatzer und Besiegte bis ins 9. Jahrhundert relativ friedlich nebeneinander. Die Mauren gewährten den Bewohnern des ehemaligen visigothischen Reichs gewisse Rechte und gegen Abgaben auch mehr Autonomie sowie die freie Religionsausübung. Sowohl Christen als auch Muslime waren an einer friedlichen Koexistenz interessiert. Daraus lässt sich folgern:

4. Leben und leben lassen war eine erfolgreiche Strategie im Umgang mit Migration.

Neue Familienbande schaffen

Trotz gewisser Hindernisse und Verbote näherten sich die Mauren, Ibero-Romanen und Visigothen nicht nur kulturell an – wovon einige architektonische Meisterwerke, etwa in Granada, Sevilla und Córdoba zeugen –, sondern auch zwischenmenschlich. Im heutigen Spanien versuchten die Mauren bis ins 9. Jahrhundert nicht, die Vermischung mit den Christen durch Restriktionen zu verhindern – «das wäre ohnehin nicht möglich gewesen», so Scholz. «Am besten fuhren Völker, deren Herrscher gar nicht erst versuchten, eine Vermischung mit anderen Stämmen zu unterbinden», führt Scholz aus.

So führten die Franken nach der Errichtung ihres Reichs unter König Chlodwig I. (482–511) anders als die Visigothen und später die Langobarden kein Verbot von Mischehen ein und verhinderten damit von Anfang an soziale und gesellschaftliche Konflikte. Karl der Grosse förderte nach der Eroberung des Langobardenreichs 774 bewusst die Verzahnung der fränkischen und der langobardischen Führungsschicht. Durch Heiraten kam es rasch zu einem Schulterschluss zwischen Siegern und Besiegten.

Auch in anderen Fällen scheinen Heiraten ein probates Mittel gewesen zu sein, um neue Kontakte und Netzwerke zu schaffen. So zeigen neuere genetische Untersuchungen aus verschiedenen Gräberfeldern, dass die Skelette von Frauen, die zur lokalen Elite gehörten, oftmals kaum Gene aus dem Genpool der lokalen Bevölkerung aufweisen – sie müssen zugezogen sein. Das heisst:

5. Die Vermischung zwischen den ansässigen und den einwandernden Ethnien förderte das friedliche Zusammenleben und war kulturell bereichernd.